Der demografische Selbstmord

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Die neue Vorausschau auf die Entwicklung der österreichischen Bevölkerung ist alarmierend: noch weniger Geburten und eine noch höhere Lebenserwartung.

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Die neue Vorausschau auf die Entwicklung der österreichischen Bevölkerung ist alarmierend: noch weniger Geburten und eine noch höhere Lebenserwartung.

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Vor kurzem hat die Statistik Österreich (ehem. Statistisches Zentralamt, ÖSTAT) die neue Bevölkerungs-Vorausschau 2000 - 2040 veröffentlicht, die in der Öffentlichkeit fast nicht beachtet wurde. Hätte man aber tun sollen. Denn die Zahlen sind mehr als alarmierend. Gegenüber der alten Vorausschau 1996 - Basis für die Pensions-Studie von Profesessor Rürup - haben sich die Daten noch einmal verschlechtert. Ursache: Die Geburten sinken vom Höhepunkt 144.000 (1966) über 79.200 (2000) auf 71.900 (2030) ab und die Lebenserwartung wird noch höher eingeschätzt als bisher.

Die Folge: Die Bevölkerung im Erwerbsalter (15 bis 57,3 = derzeitiges Pensionsalter) sinkt von 4,804.000 auf 3,687.000 ab; im Pensionsalter steigt sie um 1,160.000. Eine heute 55-jährige Frau wird im Durchschnitt 87 Jahre alt, ein 60-jähriger Mann 84 Jahre.

Was diese Entwicklung für unser Pensionssystem bedeutet, kann sich jeder vorstellen, aber noch schlimmer wird es bei der Krankenversicherung.

Unser gesamtes Sozialsystem beruht auf dem Generationenvertrag, aber es wurde niemals festgehalten, dass es sich um einen Drei-Generationenvertrag handelt. Das Deckungskapital besteht aus nichts anderem als der Nachwuchsgeneration. Der Beitrag Kind gehört daher ebenso unabdingbar zum System wie der Beitrag in Geld.

Der grundlegende Fehler in unserem Gesellschaftsvertrag, sozusagen ein "Konstruktionsfehler", ist, dass diese Naturalleistung Kind von der Gesellschaft nicht anerkannt wird. Man hat die Last der Altersvorsorge sozialisiert, die Kindererziehung blieb weiterhin privat. Unserem Gesellschaftssystem fehlt die essentiell notwendige Balance. Der Drei-Generationenvertrag ist auf einen Zwei-Generationenvertrag geschrumpft. Damit ersparen sich die Kinderlosen Leis-tungen an die heranwachsende Generation. Das wird politisch erleichtert, da Kinder keine Wähler sind.

Jede gesellschaftliche Entwicklung bedarf einer langen Sickerzeit. Heute weiß jede junge Frau, dass Kinder eine beträchtliche Reduzierung des Lebensstandards bedeuten, was sich noch dazu im Alter besonders gravierend auswirkt, da die kindererziehende Mutter wegen der Kinder meistens ihre Karriere geopfert hat. Sie findet oft nicht mehr den Anschluss und erhält dann die entsprechende Pension. Familien mit mehreren Kindern haben einen deutlich niedrigeren Lebensstandard, nachweislich im Pro-Kopf Einkommen. Kommt dann noch - in höherem Alter - eine Scheidung dazu, dann ist der gesellschaftliche Absturz vorprogammiert. Um eine Bevölkerung nur auf gleichem Stand zu halten, wäre eine Fertilitätsrate von durchschnittlich 2,1 Kinder pro Frau notwendig, derzeit sind wir auf 1,3 abgesunken.

Dieser Verlust der Balance wird in naher Zukunft schwerwiegende gesellschaftspoltische Folgen haben. Die junge Generation fürchtet, unter die Räder zu geraten. Noch sind die Alten politisch nicht organisiert, die Grauen Panther haben noch keine eigene Partei gegründet; je mehr sie aber glauben, in Bedrängnis zu geraten, um so höher wird ihr Widerstand werden. Und das wird spätestens dann der Fall sein, wenn die heute versteckten Pensionskürzungen über Nettoanpassung offenbar werden.

Abflachende Dynamik Seit rund 20 Jahren werden die Wahlergebnisse von den Senioren bestimmt. Werden Wahlen nur mehr im Altersheim gewonnen? Dann kommt es dazu, was man als Klassenkampf der Generationen bezeichnet, den totalen Zusammenbruch des Sozialsystems. Dann müssen die Jungen den Generationenvertrag aufkündigen, weil die Lasten nicht mehr zumutbar sind.

Es geht aber nicht nur um die Finanzierung unserer Altersvorsorge. Der Verlust der Jugend hat weiter reichende Folgen. In einer Zeit, in der alles Wissen innerhalb von nur sieben Jahren obsolet wird beziehungsweise sich verdoppelt, geht mit der Jugend auch die Innovationsfähigkeit zurück beziehungsweise verloren. Nur die nachwachsende Jugend garantiert jenen Schwung, jene Neugier, die immer wieder neue unerwartete und zunächst unglaubliche Entwicklungen in Gang setzt. Nur eine junge Gesellschaft kann jene Dynamik hervorrufen, die die Zukunft sichert. Und noch dazu: Diese Dynamik erzeugt jene Anziehungskraft, die die dynamischen Kräfte aus aller Welt anzieht.

Das Kalkül Die Frage ist offen, warum haben Politiker zu spät und vor allem ungenügend reagiert? Es hieße Politiker unterschätzen, wenn man meint, sie hätten das Problem nicht gesehen. Dahinter steckt politisches Kalkül: Ob Familienpolitik, ob Altersvorsorge: treiben zu lassen, nichts oder zu wenig zu tun und dann, etwa 2010 bis 2015, wenn die Unfinanzierbarkeit des ganzen Wohlfahrtsstaats nicht mehr zu leugnen ist, der Bevölkerung das Messer anzusetzen: Steuerfinanzierung als Weisheit letzter Schluss.

Ideologisch bedingt ist auch die Gegnerschaft gegen jede Familienpolitik. Diese wird als Politik "Frauen zurück an den Herd" verächtlich gemacht. Eine Politik der Wahlfreiheit für jede Frau, entweder zu Hause bei den Kindern zu bleiben oder halb- oder ganztägig zu arbeiten, hatte niemals Priorität. Nun will man gegensteuern: Kinderbetreuungsgeld für drei Jahre ohne Zuverdienstgrenzen wird angestrebt. 8.200 Schilling brutto (6.000 netto), pensionsbegründend, sind sicher ein Anreiz. Geld ist im Familienlastenausgleichsfonds vorhanden - weil durch den Rückgang der Geburten immer weniger Kinder zu finanzieren sind.

Die Alternative heißt verstärkte Zuwanderung oder mehr Kinder. In der ÖSTAT-Hochrechnung sind bereits 524.000 Zuwanderer inkludiert, ansonsten würde unser Sozialsystem wesentlich früher zusammenbrechen. Aber es ergibt sich eine neue Problematik: In allen angrenzenden Nachbarstaaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien), von denen eine Zuwanderung wahrscheinlich und auch von den Österreichern noch am ehesten toleriert würde, gehen die Geburtenzahlen genauso zurück.

37,3 Milliarden Schilling wurden an Familienbeihilfen 2000 ausgegeben. Vielen erscheint das als sehr viel Geld. Aber was sind schon 6.000 Schilling bei drei Kindern, die eine Berufstätigkeit, selbst halbtägig, unmöglich machen? Gegenüber einem Verdienst einer berufstätigen Frau, die selbst - schlecht bezahlt - doch ab 15.000 Schilling netto erhält und dazu noch eine volle Pension. Der Kinderwunsch hat nicht abgenommen, er ist nach wie vor vorhanden, nur wird er oft nicht mehr realisiert. Liegt es nur an den mangelnden Kinderbetreuungseinrichtungen? Jedenfalls Kindergartenplätze gibt es jetzt genug, nur die nicht frauengerechten Öffnungszeiten werden reklamiert.

Mangelnde Kinderkrippen werden bemängelt. Doch Kinderkrippen sind extrem teuer und nur in größeren Städten realisierbar. Hier helfen Tagesmütter, vor allem auf dem flachen Land. Mit 6.000 Schilling kann man - wenn drei Frauen sich zusammentun - sicher eine Tagesmutter mit voller sozialer Sicherheit bezahlen, vor allem, wenn steuerliche Anreize noch dazukommen. Sicher: Geld allein genügt nicht. Aber mehr Geld ist sicher besser als weniger Geld, allerdings verbunden mit Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Flextime ist gewünscht, in jeder Art: Drei-Tageswoche, Halbtagsarbeit, Heimarbeit, teleworking, all das, was es in Österreich - vor allem für qualifizierte Arbeit - nicht oder noch kaum gibt.

Der Autor ist Geschäftsführer des Wiener Instituts für Sozialforchung.

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