Europas überfällige Verjüngung

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Aufgrund niedriger Fertilitätsraten und der steigenden Lebenserwartung wird Europas Bevölkerung immer älter. Unsere Kindergartenkinder werden 100 Jahre alt werden. Kann das "der Sozialstaat“ bewältigen? Wenn ja, wie?

Europa, wir haben ein Problem! Nein, diesmal sind nicht Griechenland oder der Euro gemeint. Ein viel tiefer liegendes, nahezu alle Staaten betreffendes Problem schleppt der Alte Kontinent schon viel länger mit sich herum: die demografische Herausforderung für die Sozialsysteme - oder weniger elegant formuliert: die Alterung der Bevölkerung und ihre Kosten.

Bereits beim Europäischen Rat von Göteborg im Juni 2001 beschlossen die EU-Chefs die "Offene Methode der Koordinierung“ von einzelstaatlichen Pensionsstrategien und nationalen Aktionsplänen. Ziele: Die Gewährleistung angemessener Pensionshöhen, die Sicherstellung der langfristigen Finanzierbarkeit sowie eine entsprechende Anpassung der Pensionssysteme. Unter dem Eindruck, dass dies offenbar nicht ausreichend sei, wurde 2010 das "EU Grünbuch Pensionen“ präsentiert. Kernaussagen: Angemessene Pensionshöhen und langfristige Finanzierbarkeit sind gleichrangige Ziele, Erhöhung des faktischen Pensionsantrittsalters und stärkere Anreize, länger zu arbeiten.

Höhere Produktivität nötig

Die EU-Statistikbehörde Eurostat warnte: Wenn die Europäer mit durchschnittlich 60 Jahren den Arbeitsprozess verlassen, beträgt das Verhältnis Aktive zu Pensionisten fünf zu zwei. Um dieses Verhältnis lediglich beizubehalten, müsse das Pensionseintrittsalter bis 2040 auf mindestens 67 steigen, bis 2060 um weitere drei Jahre auf 70. Der "EU Ageing Report“ berechnete in Sensitivity Scenarios, dass die Brutto-Gesamtausgaben für Pensionen bis 2060 auf bis zu 19 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung (BIP) der EU anwachsen.

Wie man dies eindämmen kann? Durch höhere Produktivität, höhere Erwerbsraten - und zwar nicht nur in den älteren Jahrgängen sondern quer durch alle Jahrgänge - und vor allem durch Migration, so die Szenarien des EU Ageing Report. Zum politischen Reizthema Zuwanderung (statt Migration) brachte es der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, auf den Punkt: "Für das alternde Europa kommt die einzige relevante Auffrischung des Arbeitskräfte- und Unternehmerpotenzials in den nächsten zwei Generationen aus Nordafrika und dem Nahen Osten: Mediziner aus dem Iran, Ingenieure aus Ägypten und Unternehmer aus der Türkei.”

Lückenhafter Lückenschluss

Den Finger auf eine weitere Wunde im Umgang mit der Alterung Europas legt die OECD in ihrem Report "Pensions at a Glance 2011“: Während es (neben Japan) aufstrebende Volkswirtschaften wie Mexiko, Korea, Island, Neuseeland oder die Türkei gibt, wo statistisch der effektive Pensionsantritt erst lange nach dem gesetzlich erlaubten Antrittsalter erfolgt, weisen die europäischen Staaten zum Teil große negative Lücken auf: Die für die Sozialsysteme effektiven Pensionsübertritte erfolgen auf unserem Kontinent weit früher (bis zu sechs bis sieben Jahre) als das geduldige Papier der nationalen Gesetze vorgibt. Die OECD betont in dem Zusammenhang aber auch, dass die nationalen Sozialsysteme vor einem Dilemma stehen: Sie hätten, neben der Aufrechterhaltung ihrer Finanzierbarkeit ja als wichtigstes Ziel eben die Gewährleistung "angemessener Pensionseinkommen“. Was die Frage offen lässt: "Sind Regierungen wirklich bereit, durch Abschläge bei Frühpensionierungen vor allem von Ohnehin-Wenigverdienenden diese unter die Armutsgrenze zu drücken?“

Nicht zu unterschätzen ist auch, dass nicht nur die Absolutzahl der Pensionisten steigt, sondern auch deren Lebenserwartung, sprich ihre Lebenszeit als Sozialleistungsempfänger (Rente, Gesundheitssystem, Pflege): Jedes zweite der jetzigen Kindergartenkinder in unseren Breiten wird schon mindestens 100 Jahre alt werden. Statistisch gesehen werden wir jedes Jahr um drei Monate älter. Bei der Fertilitätsrate liegen wir hingegen mit durchschnittlich 1,4 Kindern unter jenem Wert, der für die Erhaltung der Bevölkerungszahl nötig ist. Sollte das so bleiben, gibt es im Jahr 2080 nur mehr halb so viele Mitteleuropäer wie jetzt, die dafür aber alt. Frankreich, das Kinder und Eltern seit Jahrzehnten besonders fördert, hat diesen Kurs neuerlich bestärkt: Ab dem vierten Kind gibt es für Eltern volle Einkommensteuerbefreiung.

Eine Möglichkeit, die Kosten der Alterung zu bewältigen, ist es, in der Aktivperiode anzusetzen. "Die Schlüsselzahl ist die ökonomische Abhängigkeits- bzw. Versorgungsquote, also die Relation zwischen der Aktivbevölkerung und den Pensionisten. Dieses Verhältnis verschlechtert sich in unseren wohlhabenden Volkswirtschaften bis 2050 stetig“, warnte The Economist Intelligence Unit kürzlich. Dementsprechend empfiehlt die EU Kommission in ihrem "Demografie Report“, den Fokus auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes im demografischen Wandel zu legen: "Die Erhöhung der Beschäftigungsniveaus ist wohl die effektivste Strategie, mit der sich Staaten für die Bevölkerungsalterung wappnen können.“ Denn "die aktive Population ist tatsächlich viel kleiner als die Altersgruppe 15 bis 64. Das lässt beträchtlichen Handlungsspielraum für Beschäftigungssteigerung und daraus folgend eine Möglichkeit, um eine günstigere Balance zwischen Aktiv- und Pensionsbevölkerung zu erreichen“. Durch "more and better jobs“ könne eine erhebliche Dämpfung des Anstiegs der ökonomischen Abhängigkeitsquote erreicht werden. Das beinhalte neben besserer Aus- und Weiterbildung auch Reduktion krankheitsbedingter Erwerbsunfähigkeit und somit der damit verbundenen Sozialkosten.

Eine Verjüngungskur in Sozialsystem und Arbeitsmarktpolitik des alternden Europa würde den Teufelskreis durchbrechen, der da lautet: rasch steigende Lebenserwartung - sinkende Fertilität - schrumpfende Erwerbsgesellschaft - weniger Entrepreneurship - weniger Innovation - stagnierende Wirtschaftsleistung - weniger Steueraufkommen - sinkendes Volkseinkommen - noch weniger Fertilität - noch mehr Staatsausgaben für Pflege-, Gesundheits- und Rentenkosten. Die demografische Entwicklung kostet neunmal mehr als die jüngste Finanzkrise. Denn es schrumpfen auch die Gesellschaften Japans, Koreas und bald auch Chinas.

Ein Zeh ist zu wenig

Den Europäern kann das Trost sein. Der demografische Wandel ist und bleibt die geostrategische Herausforderung der Dekade. Damit es dem hiesigen Sozialsystem nicht so ergeht, wie es der frühere Staatssekretär Johannes Ditz drastisch formulierte: "Operiert wird am großen Zeh und inzwischen bricht der Blinddarm durch.“

100 Jahre

Die Lebenserwartung wird weiterhin immer höher: Bereits jedes zweite der jetzigen Kindergartenkinder wird mindestens 100 Jahre alt werden.

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