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Der deutsche Student von heute

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M—H. — München, Ende März

Der Wille des deutschen Volkes zum Leben findet vielleicht seinen stärksten Ausdrude in einem geradezu unvorstellbaren Fleiß der studierenden Jugend. Beim Besuch einer deutschen L niversität von heute begegnen wir nicht dem romantischen Korpsstudenten, den auch das nationalsozialistische Dritte Reich nicht gänzlich' aus der Welt schaffen konnte, nicht dem „Sohn des guten Hauses“, dem unbeschränkte Mittel zur Verfügung standen, um seine Studien „jubelnd“ zu verbringen. Dieser deutsche Studententyp gehört endgültig der Vergangenheit an. Er ist nicht einmal mehr in jenen Universitätsstädten anzutreffen, die vom Krieg sozusagen unberührt geblieben sind.

Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt, daß sich die altersmäßige Zusammen- , setzung der Studentenschaft in Deutschland gegenüber früheren Jahren wesentlich verschoben hat. Das Durchschnittsalter der Studierenden in Deutschland liegt bei beiden Geschlechtern bedeutend höher als in „normalen“ Zeiten. Mehr als 10 Prozent der Studierenden an deutschen Universitäten und Hochschulen sind über 30 Jahre alt. Der Anteil weiblicher Studierender ist gewachsen. Er beträgt etwa ein Viertel der Gesamtstudierenden,

liegt jedoch in einzelnen Fakultäten und Fachschaften höher. So studieren, in den medizinischen Fakultäten bis 35 Prozent, in den Naturwissenschaften bis zu 40 Prozent und in den geisteswissenschaftlichen Fächern bis zu 5 0 Prozent Frauen! Das ist eine erfreuliche Erscheinung als Reaktion auf die Nazizeit mit ihrer Überbewertung männlicher Fähigkeiten, andererseits aber auch ein ernstes Symptom der Nachkriegszeit, die durch ihren enormen Frauenüberschuß Viele junge Mädchen dazu treibt, sich einen Beruf zu suchen.

Aufschlußreich ist die soziale Herkunft des deutschen Studenten von heute. Darüber gibt die Statistik einer Universität der Westzonen Auskunft 2956 Studierende gaben als B e r utf des Vaters an: 59 Arbeiter, 866 Angestellte und untere Beamte, 340 mittlere Beamte, 20 Rentner und Invalide, 181 höhere Beamte, 55 selbständige Handwerker, 144 Landwirte, 150 Handels- und Gewerbetreibende, 278 Lehrer ohne Hochschulbildung, 323 Lehrer mit Hochschulbildung und evangelische Pfarrer, 332 Ärzte, Reditsanwälte und sonstige freie Berufe; 46 ehemalige Offiziere und Militärbeamte, 160 ohne Angaben.

Anders gelagert sind die Verhältnisse in der Sowjetzone Deutschlands, an deren

Universitäten, einsdiließlich Berlin, bei den Zulassungen eine feste Quote von Studenten aus dem Arbeiterstand und, da es die politische Propaganda so erfordert, angeblich audi aus der Bauernschaft vorgeschrieben ist. Der Anteil von Studenten aus dem Arbeiterstand und aus Angestelltenkreisen ist an den Universitäten der Sowjetzone redit verschieden, doch überall im Wachsen begriffen, da fast alle Arbeiterstudenten, die eine „Vorstudienanstalt“ erfolgreich absolviert haben, automatisch zum Studium an den Universitäten zugelassen werden. Das hat zur Folge, daß die Zulassungsmöglichkeiten für Bewerber mit ordent lichem Abitur geringer werden. Jeder Abiturient, der in der Sowjetzone mit seinem Zulassungsantrag zwei- oder gar mehrmals abgewiesen - wurde, versucht dann an einer westdeutsdien Universität sein Glück. Das ist der Grund dafür, daß zum Wintersemester 1947/48 auf jeden freien Studienplatz einer westdeutschen Universität über 15 Bewerber, in einzelnen Fachrichtungen bis zu 30 Bewerber entfielen. So begrüßenswert und notwendig es ist, die wissenschaftliche Eignung über die soziale Herkunft zu stellen, so darf nicht übersehen werden, daß in der Einrichtung der „Vorstudienlehrgänge“, wie dieses Schnellverfahren offiziell heißt, in dem junge Leute ohne Mittelschulbildung zur Universitätsreife herangebtldet werden, die Gefahr liegt, daß die Universitäten in der Sowjetzone zu „Sdinellsiederkursen“ degradiert werden.

Positivere Bedeutung ist den Schul- und Hochschulreformplänen in einzelnen Ländern der westlichen Besatzungszonen beizumessen. Besonders die Schulreform plane in Hessen, die durch den Kultusminister Dr. E. Stein (CDU) Sdiritt für Schritt verwirklicht werden, sollen im systematischen Aufbau begabten jungen Menschen, unabhängig von sozialer Herkunft, die Möglichkeit der Hodischul- bildung geben. Diese Reformen zielen nicht auf Augenblickserfolge.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse vieler deutscher Studenten von heute sind besorgniserregend. 15 Prozent der deutsdien Studenten sind verheiratet; 4,5 Prozent der Studentinnen schon verwitwet. Unter zehn Studenten befindet sich ein Flüchtling, Evakuierter oder Ausgebombter. Über 20 Prozent sind auf Stipendien und Gebührenerlaß angewiesen. Die finanziellen Beihilfen betragen in den westlichen Besatzungszonen bis' zu 150 Reichsmark, in der Sowjetzone bis zu 300 Reichsmark monatlich. Sie kommen aus Leistungen der öffentlich Hand, Stiftungen, aber auch Beiträgen und Veranstaltungen der Studentenschaft selbst. Ein Teil der Studierenden verdient sich seinen Lebensunterhalt während der Semesterferien . Werkstudententum während des Semesters ist infolge der schlediten Ernährungslage und des Gesundheitszustandes kaum möglich. Bei einer Reihenunter- suefiung von 800 Studenten ergab sich in einer fast unzerstörten Universitätsstadt folgendes Bild; über 90 Prozent der untersuchten Studenten hatten Untergewicht, 4 Prozent zeigten Unterernährungs- ersdieinungen, 3 Prozent waren an Tuberkulose erkrankt (offene), weitere 5 Prozent Tbc-gefährdet. In zerstörten Universitätsstädten mit schlechten Wohnungsverhältnissen und schlechteren Lebensbedingungen sind die Verhältnisse schlechter.

Das politische Interesse der deutschen Studenten von heute ist nicht größer als das politische Interesse der Bevölkerung. An den Universitäten der westlichen Besatzungszonen haben sich im Durchschnitt nidit mehr als 3 bis 4 Prozent der Studierenden zu politischen Parteien bekannt. In der S owjetzone weist dagegen das Universitätsleben eine stärkere politische Prägung auf. Dort sind an einzelnen Universitäten bis zu 70 Prozent aller Studierenden eingeschriebene Mitglieder politischer Parteien. Allerdings sind diese Angaben kritisch zu betrad?ten. Es darf aus den Zahlen nicht ohne weiteres eine politische Schlußfolgerung gezogen werden. Ein typisches Beispiel dafür war das Ergebnis der Studentenratswahlen an der Universität Leipzig, die kürzlich abgehalten wurden. Die Christlich-demokratische Union, die bisher sechs Sitze im Studentenrat innehatte, erhielt neun, die Liberal-demokratische Partei, die im Studentenrat mit bisher sechs Sitzen vertreten war, errang elf Mandate, während die Sozialistische Einheitspartei von ihren bisherigen acht Mandaten sogar eines verlor. Leider hat eine allgemeine Resignation, die in der jungen Generation zunehmend um sich greift, auch in der Studentenschaft Fuß gefaßt und beginnt verantwortungsbewußtes Fühlen und Denken zu verdrängen. Gegen diese Erscheinungen kämpft die politische Bildungsarbeit der studentischen Selbstverwaltungsorgane an. Die Mitgliederzahlen der politischen Studentengruppen sind wesentlich niedriger als die anderer Studentenvereinigungen geselliger, sportlicher, kultureller oder wissenschaftlicher Art; dennoch sollen ihre Be strebungen, ihre Kommilitonen der gefährlichen politischen Lethargie zu entreißen, nicht verkannt werden Es sind nicht die schlechtesten Elemente, die sich dieser unpopulären politischen Arbeit widmen. Die christlich- t demokratischen Hochschulringe an den Universitäten in den westlichen Besatzungszonen und die Arbeitsgemeinschaften der CDU-Studenten in der Sowjetzone sind in hohem Maße dazu berufen, Christentum und Demokratie, Humanität und Toleranz an die politisch noch abwartenden Studenten heranzutragen. Darüber hinaus wirken sie darauf hin, daß der künftige deutsche Akademiker kein weltfremder Stubengelehrter wird, sondern zum Wissenschaftler und verantwortungsbewußten Staatsbürger heranreift.

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