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„Karstlandschaft“ Hohe Schule

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Der Substanzverlust, den die österreichische Wissenschaft nicht nur im Jahre 1938 und durch • den Krieg, sondern auch durch die vielbesprochenen „Abwanderungen“ der letzten zehn Jahre erlitten hat, ist der Oeffentlichkeit so richtig erst im vergangenen Jahre, anläßlich der Protestkundgebung der Wissenschaftler und der Kulturdebatte im Nationalrat ins Bewußtsein gedrungen. Es wäre aber ein Irrtum, die Krise ausschließlich auf gewisse vielgenannte Faktoren zurückzuführen, sei es das Fehlen ausreichender finanzieller Mittel, sei es die gut österreichische Haltung, „Kultur“ allzu einseitig mit Musik und Theater zu identifizieren, sei es der Einfluß des „Proporzes“, sei es endlich eine Tendenz der Wissenschaftler selbst, vor den „Mächtigen dieser Welt“, ob Politikern oder Bürokraten, mit weniger Nachdruck aufzutreten, als es am Platze wäre. Nun ist ja seit vorigem Jahre endlich eine Wendung zum Besseren eingetreten und es ist zu hoffen, daß die auffallendste Erscheinung der „Verkarstung“, die Abwanderung prominenter älterer oder vielversprechender jüngerer Wissenschaftler, abgedämmt werden kann. Und es bleibt sehr zu wünschen, daß „Oesterreichs Fünfte Kolonne“, wie ein Artikel dieses Blattes vor einem Jahre die „abgewanderten“ Vertreter des geistigen Oesterreich nannte, mit der Heimat, vor allem mit der Jugend an den Hochschulen, in noch nachhaltigeren Kontakt kommen kann, als es etwa das alljährliche Stelldichein in Alpbach oder Vorträge im Oesterreichischen College in Wien gestatten. Darüber hinaus ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten durch den Austausch von Gastprofessoren mit großen Universitäten des Auslands; in den Vereinigten Staaten, England und Westdeutschland geht die Einrichtung von Gastprofessuren über die in Oesterreich bestehende Praxis weit hinaus. Ein nachahmenswertes Beispiel ist etwa die Zusammenarbeit der Universitäten Frankfurt und Chikago einerseits, Heidelberg und Yale anderseits.

Allerdings: Die Förderung derartiger Programme, ja selbst die durch die Erhöhung des Kulturbudgets ermöglichte Neuschaffung von akademischen Lehrstellen, so bedeutsam und unentbehrlich sie auch für die Gesundung des wissenschaftlichen Betriebes in Oesterreich sein mögen, genügen kaum, um dem Kernproblem der Hochschulkrise an den Leib zu rücken: dieses Kernproblem ist augenblicklich nicht einmal die wissenschaftliche Forschung, sondern die Ausbildung der jungen Akademiker, gleichermaßen ob es sich um die Heranbildung von Wissenschaftlern oder um die Berufsausbildung handelt, die den Hochschulen nun einmal für viele Gebiete übertragen worden ist. Der Eindruck, daß die Mehrzahl aller Studierenden kein wirkliches inneres Verhältnis zur Universität findet, ist weitverbreitet und berechtigt. Unmittelbar nach dem Kriege wurde ins Treffen geführt, daß viele Kriegsteilnehmer den Verlust vieler Jahre so schnell wie möglich wettzumachen suchten und im Berufsleben unterzukommen trachteten; in den letzten Jahren wurde vielfach beklagt, daß den jungen, direkt aus der Mittelschule kommenden Studenten die Reife und das Interesse abgehe, welche die durch Krieg oder Widerstand gegangenen Studenten ausgezeichnet habe. Schließlich wird auf den „Massenbetrieb“, auf das ungünstige zahlenmäßige Verhältnis von Dozenten und Studenten hingewiesen. All diese Argumente sind nicht ungerechtfertigt; aber nur allzu selten ist man geneigt, wenigstens eine der Ursachen der allgemeinen „Interesselosigkeit“ in manchen althergebrachten, aber auch überalterten Traditionen unserer Universitäten zu suchen.

Der Mangel an Aufnahmebereitschaft der Hörer kann die schönsten Absichten, durch Gastvorlesungen, Berufungen oder Rückbe-rufungen aus dem Ausland der drohenden „Verkarstung“ Einhalt zu gebieten, zuschanden werden lassen. Zwei Beispiele: Ein amerikanischer Gastprofessor hielt vor etwas über einem Jahr ein Seminar an der Wiener LIniversität ab und beklagte sich über die LInwilligkeit seiner wenigen Studenten, genügend Bücher zu lesen ... Ein bedeutender österreichischer, leider in den Vereinigten Staaten wirkender Historiker hielt vor einigen Jahren in Wien eine Gastvorlesung

vor einer verschwindend geringen Anzahl von Hörern: natürlich, seine Vorlesung wurde ja nicht „für die Prüfung“ gebraucht! ... Beide Beispiele weisen auf ein Phänomen hin, das eine weniger beachtete Quelle der so weithin beklagten „Apathie“ ist: Eine Vielzahl schlecht besuchter Vorlesungen bei gleichzeitiger beängstigender Vernachlässigung selbständiger Lektüre, Diskussion und Seminararbeit.

Es ist wohl kein Zufall, daß sich die „Krise“ am wenigsten in Gebieten zeigt, deren Studium von vornherein eng mit Laboratorium oder Sezier- und Operationssaal verbunden ist. In den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften hingegen, wo das Unbehagen am stärksten fühlbar ist, nimmt „die Vorlesung“ nach wie vor eine zentrale Stellung ein, eine Stellung, die sie etwa in den angelsächsischen Ländern nie gehabt oder längst verloren hat. Es darf darauf hingewiesen werden, daß in England oder den Vereinigten Staaten die Zahl der wöchentlichen Vorlesungs- oder Seminarstunden auf zwölf

oder neun beschränkt ist, während in Oesterreich eine Verpflichtung zur Inskription von mindestens 15 oder 20 Wochenstunden besteht. Während in England oder den Vereinigten Staaten die Vorlesung in erster Linie Anleitung und Kommentar zur Lektüre sein soll, bilden bei uns die Vorlesung oder gar die zweitrangigen Skripten den Ersatz persönlichen Vertrautwerdens mit der Literatur. In Oesterreich werden in erster Linie die „Hauptvorlesungen“ besucht, die man „für die Prüfung“ braucht; in den angelsächsischen Ländern kann ein Student, der „nur“ die Vorlesungen besucht hat, unmöglich Prüfungen bestehen; einer der bekanntesten amerikanischen Historiker, eine Autorität in 'der Geschichte der Französischen Revolution, pflegt in Prüfungen seine Studenten zu bitten, seine Vorlesung auf Grund ihrer Lektüre zu kritisieren! Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auf diese Weise selbständiges Denken entwickelt wird; daß anderseits manchmal der Hang zu vorschnellen und oberflächlichen

Urteilen gefördert werden mag, ist ebenso klar. Eine achtjährige persönliche Erfahrung an Universitäten in Oesterreich, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten hat den Verfasser dieser Zeilen jedoch zu dem Schlüsse gebracht, daß unser Vorlesungssystem, wie es gegenwärtig praktiziert wird, das heißt Benützung von an und für sich zweitklassigen Skripten für viele Hauptvorlesungen und sehr schwachen Besuch der zahlreichen Nebenvorlesungen, eine unrationelle Vergeudung von Zeit und Energie der Dozenten wie der Studenten auf Kosten wirklich intensiver Ausbildung oder Forschung bedeutet. Kostbarste und gerade den mit Hauptvorlesungen belasteten Ordinarien verlorengehende Zeit für wissenschaftliche Arbeit könnte gewonnen werden, wenn nur das doziert würde, was nicht in Büchern zu finden ist, während die Umwandlung mancher schwach besuchter Nebenvorlesungen in Seminare oder „Lesekurse“ (die in England und Amerika sehr beliebte „Privatlektüre“ unter Anleitung eines Dozenten) eine weitaus gründlichere Durchdringung der betreffenden Spezialgebiete durch die Studenten gewährleisten würde.

Das angeschnittene Problem ist eines unter vielen; es erschöpft keineswegs die Fragen, die einer Lösung harren und gelöst werden müssen, soll die Gefahr der „Verkarstung“ wirklich gebannt werden: das „Niemandsland zwischen den Fakultäten“, besonders auch zwischen der philosophischen und der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät, muß erkundet und bebaut werden; die dreifache Aufgabe der Universität — Bildung im Sinne Humboldts, Berufsausbildung für die akademischen Berufe, wissenschaftliche Forschung — bedarf schärferer Profilierung, welche wohl auch in einer neuen Staffelung der akademischen Grade ihren Ausdruck finden sollte; der österreichische Doktorgrad ist in einen bedenklichen Abstand zu den Doktorgraden in Frankreich, England oder den Vereinigten Staaten geraten. Und die Bedeutung weiterer materieller Zuschüsse ist unbestritten. Aber weder institutionelle noch finanzielle Pölzaktionen können jene Intensität des gemeinsamen Studierens, Lehrens und Forschens ersetzen, die es heute neu zu erringen gilt und ohne die die österreichischen Universitäten Gefahr laufen, in ausgefahrenen Geleisen steckenzubleiben.

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