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„Oh, wie langweilig...“

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Am 4. Mai 1970 wurden an der Kent State University in Ohio vier Studenten, darunter zwei Mädchen, getötet, als die Nationalgarde in eine Gruppe von Studenten schoß, die gegen den Vietnamkrieg demonstrierte. Elf weitere Studenten wurden zum Teil schwer verletzt. Im Frühjahr 1971, ein Jahr nach den blutigen Unruhen, wollten ein paar Studenten einer anderen Universität, der Western Kentucky University, zum Gedenken an die Vorjahrsproteste und die Kollegen, die dabei ihr Leben ließen, eine Gedächtnisfeier veranstalten. Die Universitätsbehörden stellten sogar die Räumlichkeiten dafür zur Verfügung. Aber nur eine Handvoll Studenten kam.

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Am 4. Mai 1970 wurden an der Kent State University in Ohio vier Studenten, darunter zwei Mädchen, getötet, als die Nationalgarde in eine Gruppe von Studenten schoß, die gegen den Vietnamkrieg demonstrierte. Elf weitere Studenten wurden zum Teil schwer verletzt. Im Frühjahr 1971, ein Jahr nach den blutigen Unruhen, wollten ein paar Studenten einer anderen Universität, der Western Kentucky University, zum Gedenken an die Vorjahrsproteste und die Kollegen, die dabei ihr Leben ließen, eine Gedächtnisfeier veranstalten. Die Universitätsbehörden stellten sogar die Räumlichkeiten dafür zur Verfügung. Aber nur eine Handvoll Studenten kam.

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Ein halbes Jahr danach, im Herbst 1971, fand an der University of Washington in Seattle eine Demonstration statt, in deren Verlauf gegen das militärische Engagement Amerikas in Indochina protestiert wurde. Der Bericht, den die Universitätszeitung darüber brachte, trug die Überschrift „Oh, wie langweilig war dieser Tag!“

„Opfer eigener Tüchtigkeit“

Beide Vorfälle zeigen deutlich, wie die große Mehrheit der amerikanischen Studenten 1971 über Demonstrationen denkt. Sind also die amerikanischen Studentenunruhen vergessen und zu Ende, jene Krawalle, über die ganze Bücher geschrieben wurden und aus denen die Pädagogen Lehren und Erkenntnisse zu ziehen versuchten?

Rev. Dr Theodore M. Hesburgh, Präsident der University of Notre Dame in Indiana, einem Männer-college mit mehr als 7600 Studenten und fast 770 Lehrpersonen, hat sich in einer Rede vor dem Jahreskongreß des Amerikanischen Erziehungsrates mit diesen Problemen auseinandergesetzt und interessante Erkenntnisse daraus gewonnen. Was war an den amerikanischen Colleges und Universitäten so schlecht und veraltet, fragte er, daß es zu Unruhen kam?

„Seltsamerweise sind wir die Opfer unserer eigenen Tüchtigkeit“, führte Dr. Hesburgh aus. Zunächst nämlich sei das amerikanische Hochschulwesen nur langsam gewachsen. So stieg die Zahl der Studierenden seit der Gründung der Harvard-Universität im Jahr 1636 bis zum Jahr 1900 auf nur 50.000. In den letzten hundert Jahren aber hat sich die Zahl der an US-Hochschulen

Inskribierten alle 15 Jahre verdoppelt. „1950“, so führte Dr. Hesburgh aus, „hatten wir bereits drei Millionen Studenten, deren Verdoppelung auf sechs und bald auf zwölf Millionen bedeutete, daß wir erzieherisch in 15 Jahren mehr leisten mußten als in den vergangenen 330 Jahren. Wir alle waren so mit Wachstum und Entwicklung beschäftigt, daß wir gar keine Zeit hatten, zu fragen, ob das, was einst gut war für 50.000 — das waren zwei Prozent aller Jugendlichen im College-Alter Anno 1900 — auch gut war für 8,5 Millionen — das sind 40 Prozent der College-Altersgruppe im Jahre 1970. Plötzlich aber fragten die Studenten, was wir vor lauter Beschäftigung zu fragen vergessen hatten: Bietet das Hochschulwesen, wie es derzeit aussieht, wirklich gute Erziehung für jedermann?“

Tatsächlich hatten sich ungünstige Veränderungen eingeschlichen. Die liberale Erziehung erlitt Schiffbruch durch Spezialisierung und Überspezialisierung. Dazu kam, daß das enorme Anwachsen der Studentenzahlen gerade diejenigen nicht einschloß, die höhere Erziehung am dringendsten brauchten: die Jugendlichen der Minderheitsgruppen und die Kinder der sozial schlechter gestellten Schichten der Bevölkerung, die trotz vorhandener Intelligenz und Begabung nur ein Siebentel der Chance auf eine Hochschulbildung hatten, wie sie für die Kinder der sozial besser gestellten Schichten bestand. Zieht man noch den bürokratischen Apparat im amerikanischen Hochschulbetrieb und die chronischen finanziellen Krisen an den Colleges in Betracht, so fragt man sich mit Dr. Hesburgh, „wieso die Universitätspräsidenten und

-Verwalter den heraufkommenden Sturm nicht sahen ...“

Praktische Erfahrungen

Welches sind nun die Lehren, die aus den turbulenten Ereignissen zu ziehen sind und schon gezogen werden?

Zunächst scheint sich das Schwergewicht im Hochschulwesen von der reinen Wissensvermittlung auf die praktische Einbeziehung dieses Wissens in das Alltagsleben zu verlagern. So forderte Derek C. Bok, der neue Präsident der Harvard University in Cambridge, Massachusetts (mehr als 15.000 Studenten und mehr als 7000 Lehrpersonen) in seiner Begrüßungsansprache für die neuen Semester dieses Jahres: „Wir müssen nach Wegen suchen, um das Schulwissen mit praktischer Erfahrung zu verbinden und dadurch mehr Studenten zu helfen, sich in der Alltagswelt zurechtzufinden.“ Bok wies darauf hin, daß die Anhäufung von Wissen nicht der wichtigste Teil der College-Erziehung sei. „Statt dessen haben wir in zunehmendem Maße nach anderen Dingen Ausschau zu halten, die in der wechselnden Welt um uns länger vorhalten werden.“ Es geht ihm dabei sowohl um ideelle Dinge wie Toleranz, Abkehr vom Dogmatismus, Fähigkeit zu kritischer Analyse, logisches Denken und Respekt vor gegebenen Tatsachen, als auch um praktische Anforderungen, wie Freizeitgestaltung und Umweltverbesserung. Ein weiteres Problem sieht der Universitätspräsident in den Schwierigkeiten vieler College-Absolventen, sich für eine Berufslaufbahn zu entscheiden. Ihnen bei der Eingliederung in die Gesellschaft zu helfen, sei gleichfalls Aufgabe der Hochschulen.

Und hier trifft er sich mit seinen Ansichten und Forderungen mit denen der Studenten. 1971 hatten diese nämlich andere Probleme und Interessen als in den Jahren vorher. Was sie nun beschäftigte, waren Umweltprobleme, Hebung des Lebensstandards, politische Aktivität wegen der Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre und — vielr leicht am wichtigsten — der Geldknappheit. Die höhere Schulbildung ist in Amerika nämlich teurer geworden. Die Universitätsgebühren sind im Schuljahr 1970/71 um neun Prozent gestiegen. Dazu kommt, daß Teilzeitarbeit an den Universitäten, die für viele Studenten zur Aufbesserung ihres Wechsels sehr begehrt ist, spärlich wurde, und daß auch College-Absolventen immer schwerer Arbeitsplätze finden. Diskutiert man heute mit amerikanischen Studenten, so sprechen sie lieber über derlei Dinge, als über die amerikanische Außenpolitik oder die Black Panthers. „Bei allen Schwierigkeiten und aller Gefahr“, so beurteilt Harvard-Präsident Bok die Lage, „hatten die Unruhen den unzweifelhaften Vorteil, daß wir Selbstgefälligkeit über Bord warfen und uns neue Ziele steckten ...“

Die Wege zu diesen neuen Zielen sind mannigfach. Die Yale University in Connecticut gewährt zum Beispiel Studentenkredite, die erst, nachdem der Kreditnehmer eine Stellung angetreten hat, nach Maßgabe seines Verdienstes zurückzuzahlen sind. Eine Reihe von Universitäten hat „black studies Pro-grams“ eingeführt, und die City University of New York (115.000 Studierende) läßt schon das zweite Jahr jeden Studenten — darunter viele Neger und Puertoricaner — ohne Vorprüfung zum Studium zu. Ein originelles Förderungsprogramm hat das Oberlin College in Ohio, eine zwar kleine, aber renommierte US-Hochschule (2600 Studierende) eingeführt. Oberlin gestattet jedem der 13 Negermitglieder im US-Kongreß die Nominierung von zehn bis fünfzehn qualifizierten Studenten und läßt mindestens vier von jeder Gruppe zum Studium zu. Damit hofft das College, bis 1975 seinen Prozentsatz an Negerstudenten und anderen Minoritätenvertretern, der jetzt etwa sieben Prozent beträgt, zu verdoppeln.

Das alles scheint den amerikanischen Studenten wichtiger zu sein als Vietnamkriegsdemonstrationen — ob auf die Dauer, wird sich zeigen. Ein Silberstreif zeigt sich insofern, als Experten der Meinung sind, daß der Höchststand des Collegebooms 1980 erreicht sein wird und danach vermutlich ein Absinken der Studentenzahlen zu vermerken sein wird. Da zudem in einigen US-Staaten Gesetze verabschiedet wurden, auf Grund derer Studenten, die sich an Protestaktionen beteiligen, Studienbeihilfen und staatliche Zuwendungen gestrichen werden, dürfte die Sorge um Ihr persönliches Auskommen die Lust an Studentenkrawallen weiter zügeln.

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