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Schwere Tage für Alice

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Die neue Staatssekretärin für die Belange der Universitäten, Alice Saunier-Seite, fand sich kurz nach | ihrer Ernennung bereits mit einem H schwierigen Problem konfrontiert, das knapp vor Ostern schon nationale Dimensionen angenommen hatte.

Nach der Studentenrevolte von 1968 ergriff der damalige Unterrichtsminister und jetzige Präsident des Parlaments, Edgar Faure, die Initiative zu einer durchgreifenden Umstrukturierung der Universitäten. Seine Reform basierte auf dem Prinzip der Selbstverwaltung und räumte den Hörern ansehnliche Rechte im Hinblick auf eine Teilnahme an der Organisierung dieser Institute ein. Das Werk Edgar Faures sicherte den Hohen Schulen einige Jahre der Ruhe, obwohl die Studenten von ihren Rechten selten Gebrauch machten. Die Masse der Inskribierten wollte so schnell wie möglich ihre Studien beenden, während die Minorität — Sammelbecken extrem linker Gruppen — immer wieder versuchte, die geringe Glut, die unter der Asche des Mai 1968 noeh gloste, neuerlich anzufachen. Mit einer Schwierigkeit hatte der damalige Unterrichtsminister Faure allerdings nicht gerechnet. Geburtenstarke Jahrgänge rückten in die Fakultäten nach. Im Jahr 1950 zählte Frankreich 139.593 Studenten, 1965 waren es bereits 319.621 und zehn Jahre später mußten die Hörsäle und Seminare ihrer 745.242 aufnehmen. Es wurde schnell offenkundig, daß beim Fortschreiten der Wirtschaftskrise diese gewaltige Masse von Akademikern unter keinen Umständen Arbeitsplätze finden könne, die ihrer Ausbildung und ihren Diplomen gerecht werden. So darf man annehmen, daß für dieses Jahr noch 40.000 Absolventen eine Stellung im Unterricht, in der Forschung oder in der öffentlichen Verwaltung erlangen können. Die anderen werden das Heer der jugendlichen Arbeitslosen, welches bereits auf 600.000 Köpfe angeschwollen ist, verstärken. Unter diesem Gesichtspunkt war daher der Ruf verständlich, dem Universitätsbetrieb eine Neuorientierung zu geben und die jungen Leute besser auf ihr Berufsleben vorzubereiten. Dies ist der eigentliche Inhalt der Reform und war als die letzte Etappe der Reorganisierung des gehobenen Unterrichts gedacht. Die Studenten sollten im 3. und 4. Jahr eine wissenschaftliche Ausbildung hohen Niveaus erhalten, welche sie auf das aktive Leben und die Ausübung beruflicher Verantwortung vorbereitet. Fest steht, daß dieses an sich notwendige und vernünftige Projekt von der Bürokratie des Ministeriums in solcher Form präsentiert wurde, daß die wenigsten Spezialisten des Unterrichtswesens sofort wußten, um was es ging. Beamtenfranzösisch ist so gut wie unverständlich und gestattet die verschiedensten Interpretierungen. Die Staatssekretärin wurde daher knapp vor Ostern vom Präsidenten Giscard d'Estaing ersucht, in einer möglichst energischen Kampagne den erschreckten Hörern die wahren Intentionen der Regierung zu verdeutlichen.

In dem Projekt vom 6. Jänner 1976 war vorgesehen, daß bei jeder Universität eine eigene Kommission gebildet werde, zusammengesetzt aus den Repräsentanten des jeweiligen Instituts und den Arbeitgeberorganisationen, welche der Ausbildung die notwendigen praktischen Impulse zu geben hätten. Die extreme Linke griff den Ball sofort auf und proklamierte den Einbruch des „Monopolkapitals“ auf den Fakultäten. Nun kann man vieles behaupten, aber eines steht fest: die angesprochenen Industriellen haben den Reformplan mit großer Reserve aufgenommen, denn sie haben gegenwärtig wirklich andere Sorgen, als sich in die Spannungen einzumischen, die auf zahlreichen Hohen Schulen herrschen- Aber der Slogan, einmal gefunden, scheint das auslösende Moment gewesen zu sein, um auf vierzig Universitäten einen Hörerstreik zu inszenieren und um Burschen und

Mädchen auf die Straße zu treiben. Derartige Vorgänge wurden bisher von den Arbeitergewerkschaften nur sehr lau unterstützt. Die beiden auf den Hochschulen am besten organisierten Gruppen, die der kommunistischen Partei nahestehen, nahmen nicht gerade mit heller Begeisterung die spontanen Aktionen der Hörer auf. Denn wie schon im Mai 1968 fürchtet die KPF, an ihrem linken Flügel von Trotzkisten, Maoisten und ähnlichen Repräsentanten des Marxismus-Leninsmus überflutet zu werden.

Madame Saunier-Seite, die Übrigens die Reihe der Politdamen in der Regierung mit Erfolg verstärkt, ist bereit, bei einzelnen Punkten des Reformprogramms Korrekturen vorzunehmen, denkt aber nicht daran, die Substanz des Projektes in Frage zu stellen. Wird also die Regierung einmal Stärke und dann wieder Nachgiebigkeit zeigen? Die dem Regime wohlwollenden Kreise verlangen vom Staatspräsidenten, daß er diesmal unnachgiebig bleibe und das angeschlagene Prestige des Kabinetts nicht neuerlich in Frage stelle.

Frankreich besitzt bekanntlich eine Reihe hervorragender Spezialschulen — man denke nur an die berühmte Verwaltungsakademie ENA — welche in zufriedenstellender Weise der Wirtschaft die technischen Kader zur Verfügung stellte. Sollen also die allgemeinen Universitäten ebenfalls in spezialisierte Schulen umgewandelt werden, die den Betrieben das Management ausbilden? Die Staatssekretärin hat mehrfach mit Nachdruck diese Frage verneint. Alice Saunier-Seite will unter keinen Umständen den Forschungsauftrag der Universitäten beschneiden oder ihre kulturelle Sendung bedrohen. Trotzdem kann man bei aufmerksamer Analyse der Texte zu dem Schluß gelangen, daß hier der „gewinnbringende“ Unterricht bevorzugt und mit zusätzlichen Krediten ausgestattet wird. Beim gegenwärtigen Stand der Diskussion wurde die Idee entwik-kelt, am Beginn der Universitätsstudien harte Selektierungen vorzunehmen, um nur jenen Studenten Lehrplätze einzuräumen, die befähigt sind, Universitätsstudien bis zum Diplom durchzustehen. Der in der Fünften Republik herrschende Liberalismus will jedoch derartige Metboden vermeiden und jedem Jugendlichen die Chance geben, eine umfassende Ausbildung zu genießen. Die geplante Reform ist sicherlich auch mit gewissen Gefahren verbunden, soweit es die Zukunft der Universitäten und ihre Stellung innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung betrifft. Da Frankreich die beinahe 800.000 Hochschüler (zum Vergleich wird darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik Deutschland nur 350.000 Studenten und Großbritannien nur 250.000 zählt) nicht in den Arbeitsprozeß integrieren kann, müssen Maßnahmen getroffen werden, die in manchem an eine Quadratur des Kreises erinnern.

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