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Die Alma mater Kennedys

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Harvard, Cambridge, ist die offizielle Anschrift der Universität. Cambridge ist ein Vorort des altehrwürdigen Boston. Diese unromantische Lokalisierung genügt, um das Taxi vom Logan-Flughafen bis zur Universität zu dirigieren, aber um sich in dem verstreuten Riesenkomplex zurechtzufinden, muß eine ,,Harvard“-Landkarte herangezogen werden. Auf dieser Karte entdeckt man nicht nur den historischen Mittelpunkt, den baumbestandenen Harvard Yard, sondern auch unzählige Gebäude, Forschungsinstitute, Laboratorien, Studentenwohnhäuser, Klubhäuser, Museen und Vortragshallen, die unter dem Sammelbegriff „Campus“ in loser räumlicher Verbindung 6tehen.

Harvard war zu Beginn (1636) zwar ein „religiöses College“, aber doch nicht ausschließlich „Theologenseminar“. Schon gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts . wurden die Absolventen in einer Schlußansprache als „Liberi Liberaliter Educati“ (Herren, erzogen wie Herren) angesprochen. Das humanistische Leitbild wirkt auch heute noch so stark, daß der vorjährige Rektorenbeschluß, die Zeugnisse in englischer statt in lateinischer Sprache zu drucken eine allerdings vergebliche Palastrevolution hervorrief. Harvard vertritt heute nicht nur noch das Bildungsideal des New-England-Gentleman, sondern wurde in den letzten fünfzig Jahren bewußt in eine Art „Weltuniversität“ verwandelt. Heute kommt nur noch ein Drittel der Collegestudcnten aus Neuengland, und die Mehrzahl wurde in öffentlichen Schulen erzogen. Der Negerstudent im Hörsaal ist zwar noch immer eine seltene Erscheinung (der erste farbige Absolvent wird 1890 verzeichnet), aber Harvard arbeitet bewußt gegen Rassen-und Religionsdiskriminierung. Mehr als ein Viertel der Studentenschaft ist jüdisch. Diese Tatsache hat sich in den Köpfen der provinziellen und oft antisemitischen Mittelwestamerikaner zum Phantasiegebilde eines „jüdischen Harvard-College“ dramatisiert.

Das Erstaunlichste für den europäischen Akademiker ist die immer wieder betonte und bewußt gesteuerte Unabhängigkeit vom Staat. Diese Unabhängigkeit beruht auf einem in langen Jahren angesammelten Reichtum, der immer wieder durch Geschenke, Nachlässe treuer Harvard-Absolventen („Alumni“) und durch Gelder aus Stiftungen aufgestockt wird. Havard ist daher nicht nur auf der Landkarte der Bostoner Umgebung ein inselhaftes, unabhängiges Gebilde, sondern auch budgetär ein stolzer, kleiner Staat. Der sarkastische Professorenwitz — „Wann wird Amerika endlich einen Gesandten in Harvard ernennen?“ — ist nicht unbedingt aus der Luft gegriffen ...

An der Spitze der Universität steht der Präsident, der aber kaum mit einem europäischen Rektor zu vergleichen ist. Die Bezeichnung „Universitätspolitiker und Diplomat“ mit langjähriger Amtstätigkeit und Begabung für umfassende finanzielle Dispositionen umreißt sein Aufgabenfeld besser. Machtmäßig ist er allerdings nur ein Mitglied der sogenannten „Corporation“, die sich neben dem Präsidenten aus fünf Bostoner Persönlichkeiten und dem Schatzmeister zusammensetzt. Diese allmächtige „Corporation“ wird durch ein dreißigköpfiges Überwachungskomitee kontrolliert, dem ein Vetorecht gegenüber Corporationsbeschlüssen eingeräumt wird. Man sieht, daß auch eine eher „aristokratische Institution“ wie Harvard der demokratischen Landes- und Verwaltungsphilosophie nicht entgehen kann.

Das demokratische Prinzip wirkt sich natürlich auch auf, den unteren Rängen der Hierarchiepyramide aus. Im Gegensatz zu unserem System, das die eigentliche Macht in den Händen der ordentlichen Professoren vereinigt und alle anderen „nichtordentlichen“ Mitglieder des Lehrkörpers ihrem weiteren Schicksal mehr oder weniger machtlos zutreiben läßt, ist die Linie hier auch auf den unteren Rängen klar vorgezeichnet. Die akademischen Stationen sind: Instructor, Assistent-Professor, Associate-Professor (unserem a. o. Professor entsprechend), Full-Professor.

Das organisatorische Gesamtkonzept kann man am besten als die Vereinigung verschiedener Fakultäten und Institutionen unter einem Namen (Harvard) bezeichnen. Die einzelnen Institute, sei es nun ein Laboratorium oder ein Universitätmuseum, erstellen ein unabhängiges Budget und wirtschaften autark bis zu einer eventuellen „Defizitschwelle“. Dieses Defizit wird dann durch einen Kredit aus dem Gesamtvermögen der Universität ausgeglichen. Die Institutionen sind so zahlreich und vielfältig, daß ihr Funktionieren wahrscheinlich nur durch diesen Organisationstrick möglich ist. Neben der riesigen Zentralbibliothek (Widener) gibt es etwa ein Dutzend Fachbibliotheken in großen Gebäuden. Es gibt eine eigene Klinik für Harvard-Leute, verschiedene Museen, Observatorien, eine eigene Zeitung (Harvard Crimson), ja sogar ein Warenhaus, wo man seinen Bedarf vom Bleistift über die Badematte mit dem roten Harvard-Wappen (Inschrift:„Veritas“) bis zum Fernsehgerät und Superbenzin eindecken kann (und als Harvard-Mitglied zehn Prozent Rabatt bekommt). Die Komplexität wird noch durch die sogenannten „Studienzentren“ vermehrt. Sie werden unabhängig vom Collegebetrieb und den verschiedenen „Graduate-Schools“ (als Jurist geht man nicht auf die juridische Fakultät, sondern in die „Law-School“, der Mediziner geht in die „Medical-School“ usw.) geführt. Die Studienzentren wurden meist nach dem zweiten Weltkrieg gegründet. Sie sammeln graduierte Akademiker und Fachleute, die schon in der Praxis standen, zu einjährigen Studienkursen und Seminaren. Es gibt bereits Zentren für Rußlandstudien, Fernoststudien, Außenpolitik, Geschichte, Stadtplanung und eines für die Probleme der Freiheit. Das Gebäude für bildende Künste wird im Augenblick nach Plänen von Le Corbusier gebaut.

Neben diesen Studienzentren werden von Harvard auch einige „Außenposten“ unterhalten. Die beiden berühmtesten Harvard-Satelliten dieser Art sind: Dumbarton Oaks in Washington und „I Tatti“ bei Florenz.

Die Professoren- und Studentenschaft bildet einen Querschnitt der internationalen Intelligenz. Harvard-Kritiker haben der Universität diese Intemationalität oft vorgeworfen und auf die bewußte Planung dieser weltoffenen Universitätspolitik stirnrunzelnd hingewiesen. Sie meinten, Harvard wolle seinen Einfluß soweit als möglich streuen und andere Staaten und Nationen mit seinen Erziehungsidealen infiltrieren. Harvard will das in der Tat, aber seine Anhänger sehen darin kein Negativum. Harvard versucht mit eiserner Energie die Fahne des Individualismus auf diesem konformistischen Kontinent hochzuhalten. Dem Harvard-Professor wird jede Ex-zentrität lächelnd erlaubt, solange die bestehenden Gesetze nicht grob verletzt werden .. . Das Individualitätsideal prägt natürlich auch den Studenten. Professoren und Studenten vereinigen sich in dem festen Glauben, daß man in Harvard immer einen Gleichgesinnten oder eine Gruppe Gleichgesinnter finden wird — wer immer man auch sei und von wo immer man auch kommen mag.

Trotz einer Anti-Harvard-Einstellung weiter Kreise in Amerika sieht der Harvard-Student einem angenehmen Ende seiner Studienzeit entgegen. Die Abschlußjahrgänge werden von „Interviewern“ (besser: Werbern) großer Industrien, Anwaltskanzleien und Laboratorien umlagert, die einen Harvard-Absolventen für sich gewinnen wollen. Das Prestige Harvards bleibt trotz Kritik unangefochten.

Die großen Namen, wie Adams, Emerson, Longfellow, Henry und Williams James, George Santayana, Theodore und Franklin Roosevelt, bilden die Grundlage der Ehrwürdigkeitspatina. Sechs amerikanische Präsidenten waren Harvard-Absolventen. John F. Kennedy ist Harvard „40“ (die Nummer bezeichnet den Abschlußjahrgang). Die Universität hat bisher acht Nobelpreisträger und eine Unzahl Pulitzer-Preisträger gestellt. Die Kennedy-Administration berief eine große Zahl von Experten aus der Harvard-Professorenschaft auf einflußreiche Stellen in Washington. Harvard ist ein Treffpunkt der Weltgelehrsamkeit. Kaum ein ausländischer Gelehrter, der die Staaten bereist, versäumt es, Harvard einen Besuch abzustatten und nach Möglichkeit einen Gastvortrag zu halten. Eine jeweils wechselnde Phalanx von Gastprofessoren lehrt hier für ein oder zwei Semester. Die Jahresabschlußfeiern (Commencement) mit der traditionellen Verleihung von-Ehrendoktoraten sind gesellschaftliche Ereignisse, die von Küste zu Küste im Fernsehen, Radio und auf den Titelseiten der Zeitungen beachtet werden. Das jährliche Treffen der Abschlußjahrgänge trägt zum Zusammenhalt der Alumni (Altherren) bei. In allen größeren Städten Amerikas. gibt es einen Harvard-Klub. Einzelne HarvardVerbindungen, wie zum Beispiel der Hasty-Pudding-Club, gehen bis ins achtzehnte Jahrhundert zurück und spielen noch immer eine gewisse Rolle innerhalb des snobistischen Sozialprestiges.Seit den zwanziger Jahren ist der konservative Unkenruf, daß Harvard eine Brutstätte von „Linkselementen“ sei, nicht mehr verstummt. Der Kampf zwischen Joseph R. McCarthy und dem Harvard-Präsidenten Nathan M. Pusey im Jahr 1953 hat alle „Rotseher“ wieder in den Vordergrund gespielt. Pusey stellte sich gegen McCarthys Scfcnüffel-kommissionen, die zu diesem Zeitpunkt einige Professoren aufs Korn genommen hatten. Er wies McCarthy mit der klugen Bemerkung zurück, daß Harvard einheitlich antikommunistisch sei, sich aber auch energisch für menschliche Freiheit und die freie Diskussion freier ^Menschen einsetzen werde. Auf dem Höhepunkt - der McCarthy-Krise (1955) adressierte ein erboster Bürger aus Boston ein Pro-McCarthy-Schreiben: „Kremlin on the Charles (Harvard liegt am Fluß Charles), Cambridge 38, Mass.“ Die Post brachte die Karte ohne Zögern nach Harvard. Man sieht, wie tief das Vorurteil auch in den Bewußtseinsfalten des kleinen Mannes sitzt. Amerikakenner erklär-ren diese fanatischen Reaktionen letztlich aus dem hier unausrottbaren Mißtrauen dem Intellektuellen gegenüber: „Kommunistenhaß“ sei in diesem Fall nur die Verkleidung.

Hat diese Einstellung überhaupt eine reale Grundlage? Diese Frage muß bejaht werden. In den dreißiger Jahren fühlten sich viele Intellektuelle von dem Dreipunkteprogramm der amerikanischen Kommunisten angezogen:

1. Opposition gegen den Faschismus,

2. Qrganisation gewerkschaftlicher Körperschaften, 3. Unterstützung des New Deal. Aber bereits 1940 (Hitler-Stalin-Pakt) verließen die meisten die Partei, und der Unkenruf vom „roten Mann in Harvard“ ist seit zwei Jahrzehnten unreal geworden. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß jene Kreise um die „Chicago Tribüne“ Institutionen wie die UNO oder Ideen wie den Marshall-Plan bereits als „rote Vergiftungsattacken“ bezeichnen. Diesen provinzamerikanischen, isolationistischen Tendenzen kann ein Treffpunkt der Weltgelehrsamkeit und die bewußt international eingestellte Universitätspolitik Harvards allerdings nur ablehnend gegenüberstehen. Man versucht hier den idealistischen Grundsatz zu verteidigen, daß Gesamtinteressen über den egoistischen Einzelinteressen stehen sollen. In diesem Sinn hat auch Kennedy während des letzten Konfliktes zwischen Regierung und den großen Stahlkonzernen gehandelt. Er widersetzte sich mit allen Kräften einer ungerechtfertigten, egoistischen Stahlpreiserhöhung, die das Gesamtpreisniveau des Landes erschüttert hätte. Der Erfolg des im Augenblick prominentesten Harvard-Absolventen fällt aber auch auf seine Alma mater zurück. '“•

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