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Begegnung in Leopoldskron

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In Studentenkreisen der amerikanischen Harvard-Universität wurde nach Kriegsende der Plan der Errichtung eines Seminars in Europa erörtert. War es ein Zufall, daß der gebürtige Österreicher Clemens Heller, als er eines Tages mit seinem Freund Scott-Ellidge in der New-Yorker Untergrundbahn diesen Plan bespradi, dabei just neben Helene Thimig, die Witwe Reinhardts und Bewahrerin seines Salzburger Vermächtnisses, zu sitzen kam? Gemeinsam mit dem völlig gelähmten und nicht minder begeisterungsfähigen Richard D. Campbell schritten die beiden im Rahmen des Harvard Students Council an die Realisierung des Plans. Private Spenden von 60.000 Dollar sicherten zunächst die Abhaltung eines ersten Studienjahrs im Schloß Leopoldskron. Ein Pachtvertrag kam zustande, Bauschäden konnten behoben werden, und im Frühjahr 1947 fand ein erster Kurs statt. Amerikanische saßen hinter der Mutter. Ihrem Äußeren nach sind sie ein getreues Ebenbild der Eltern. Die Knaben in den gleichen, langen und schwarzen Hosen des Vaters und die Mädchen mit dem gleichen bis zu den Füßen reichenden Rock der Mutter angetan. Nur die Haube des einen Mädchens war aus weißem Organdi, denn sie ist bereits 16 Jahre alt und wird die schwarze Haube erst tragen, wenn sie heiratet. Die ganze Erscheinung der Amisch atmete Abkehr von der übrigen Welt, in der sie ihr bäuerlich-religiöses Leben inmitten ihrer Siedlungen auf ihren Farmen verbringen. Die Kirchenoberen saßen auf der linken Seite vor dem Richtertisch. Kein Wort der Verantwortung kam über ihre Lippen. Aus ihren Gesichtszügen konnte man entnehmen, daß sie die Gründe ihrer Anwesenheit im Gerichtssaal einfach nicht verstanden.

Der Fall des Jacob Spinner hat den Mitarbeiter der .Furche veranlaßt, eine kleine Reise nach Millersburg, einer kleinen Stadt in Ohio, zu unternehmen, aus der Spinner stammt. Dort konnte ich in der eigenartigen Sittengeschichte der Amisch blatįem, denn dort sind sie zu Hause. Sie begegnen einem auf ihren kleinen, schwarzbemalten Wagen, sof Professoren hielten Vorlesungen vor europäischen Teilnehmern ab, während Harvard - Studenten die Verwaltungsarbeiten verrichteten. Der Erfolg ermutigte die Veranstalter und ermöglichte ihnen, erfolgreich für die Gründung einer Dauerinstitution werben zu können. So erfolgte im Sommer 1947 die Gründung des Seminars, das seither, zuerst noch mit Unterbrechungen, später durchlaufend, unter der Leitung seines Direktors Shepherd Brooks und seinem wissenschaftlichen Leiter Richard D. L e- w i s einen regelmäßigen Studienbetrieb mit etwa sechs bis acht Studienkursen im Jahr durchführt.

Die Teilnehmer an diesen Lehrgängen, durchschnittlich 50 bis 60 an der Zahl, kommen aus west- und mitteleuropäischen Staaten: England, Irland, Frankreich, Belgien, Holland, Westdeutschland, der Schweiz, Italien, Österreich und den skandinavischen Ländern. Sie sind entweder Studenten in vorgerückten Semestern oder absolvierte Akademiker, die bereits im Berufsleben stehen: Wissenschafter, Künstler, Journalisten, Angehörige öffentlicher oder freier Berufe. Die einzelnen, meist vierwöchigen Lehrgänge sind in der Regel einem bestimmten Fachgebiet gewidmet, aus dem jeweils amerikanische Hochschulprofessoren und Wissenschafter Vorlesungen und Seminare abhalten. Im Juni 1951 wurden beispielsweise in einem sozialwissenschaftlichen Lehrgang ausgewählte Fragen der amerikanischen Soziologie und Sozialpsychologie behandelt, wie: Klassenstruktur der amerikanischen Gesellschaft, statistische Voraussagbarkeit von Verhaltungsweisen auf Grund von Gruppenuntersuchungen, wie etwa Anpassung oder Scheitern zweier Menschen in der Ehe, Anwendung sozialpsychologischer Methoden.

Ein- bis zweimal im Jahr vereinigt ein sechswöchiger Kurs mit erhöhter Teilnehmerzahl mehrere Fachgebiete nebeneinander. Unter den zahlreichen Vortragenden befanden sich führende amerikanische Gelehrte: Soziologen und Ethnologen, Staatswissenschafter, Nationalökonomen, Literaturwissenschafter, Schriftsteller. Zu den Disziplinen des Seminars zählen ferner Geschichte, Philosophie, Musik und Kunst. In Ergänzung zu den Vorlesungen steht den Teilnehmern eine wertvolle wissenschaftliche und literarische Bibliothek zur Verfügung, die in Europa gewöhnlich nicht erhältliche .Bücher sowie die führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften aufweist.

Schloß Leopoldskron mit seinen einsamen, verschlungenen Parkwegen, dem großen seeartigen Teich und seinem malerischen landschaftlichen Rahmen schafft eine angenehme, freie Atmosphäre für ein besinnliches, nicht überbürdetes Studieren. Ebenso wichtig ist der menschliche Wert des ungezwungenen und zugleich gepflegten Gesellschaftslebens. Neben den gemeinsamen Mahlzeiten und der gemeinsamen Entspannung in Sport und Spiel gibt es auch .Hauskonzerte“: ein reiches Schallplattenarchiv ermöglicht die Hörauffüh- rung ganzer Messen, klassischer Symphonien und selbst vollständiger Theaterstücke. Im Gespräch zwischen Angehörigen der verschiedenen europäischen Nationen und Amerikas werden, ganz ohne die hektische Betriebsamkeit so vieler der internationalen Camps und Studentenheime, Brücken des Verständnisses und der Freundschaft geschlagen. Wie wohltuend wirkt neben der Ungezwungenheit des amerikanischen Hoch- schulstils dabei auch das Fehlen einer politischen Atmosphäre und Absicht: denn das Salzburger Seminar ist von niemandem abhängig und niemandem verpflichtet.

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