6632470-1956_46_08.jpg
Digital In Arbeit

Heimkehr des Geistes

Werbung
Werbung
Werbung

WIEN XV, FELBERSTRASSE. Wenn man vom Stadtinnern kommt, prunkt zur linken Hand der neue Westbahnhof, ringeln sich die Schlangen der Kraftwagen, liegt in der feuchten Spätherbstluft ein unaufhörliches Brausen wie die Bran-* dung sturmbewegten Meeres. Aber schon ein Blick in die dürftigen Nebengassen lähmt das Herz. Eben kommt ein etwa zehnjähriges Mädchen mit ihrer Mutter aus einem Hause, dessen Fassade voller Narben ist; die beiden Menschen werfen schnell einen Blick zur Einfassungsmauer des Bahnhofgeländes, wo etliche Bänke und Bäume Stille und Natur vortäuschen; gehen dann quer über die Straße in ein großes Gebäude, das schon von weither an eine Schule gemahnt. E vergehen etwa zehn Minuten. Dann kommen die Zwei wieder aus dem Tore. Das Mädchen immer ein paar Stufen der Treppe seiner Mutter voraus, in der linken Hand hält es zwei Bücher. Und dann sitzen die beiden auf einer Bank, die zufälligerweise noch frei blieb. Die Mutter strickt, das Mädchen liest. Die Schatten wachsen. Winterahnen deucht die Dächer. *

DIE SCHATTEN WACHSEN. Bei einer Frobebefragung Erwachsener beiderlei Geschlechts antworteten auf die Frage, woher sie nach ihrer Schulentlassung die Weiterbildung bezögen, 87 Prozent: „Zeitung und Radio.“ Von dein Rest der zersplitterten Reststiminen aber gehörten zwei Drittel den Volksbildungsanstalten und Büchereien. Hält man nun dazu, daß 70 Prozent aller Wiener Familien regelmäßig das Kino besuchen; 82 Prozent einen Pvundfunkempfänger besitzen; wenn man als Randillustration erfährt, daß mehr als die Hälfte der Lehrlinge eines Wiener Großbetriebes auf ihren „Campingfahrten“ mit ausgeliehenen Mopeds in den Wienerwald noch tragbare Radioempfänger mitnehmen und fast alle damit Jazzmusik hören statt das Rauschen der Baumkronen: dann kann man beiläufig die Aufgabe derer ermessen, die ihr Leben der Volksbildung verschrieben haben. *

„WENN ICH DAS WORT VOLKSBILDUNG BLOSS HÖRE“ - so erklärte im ersten Kriegsjahre ein maßgeblicher Politiker des damaligen Regimes, frei nach einem anderen Wort — „so greife ich nach meinem Koppel!“ Das sollte wohl heißen: eine individuelle Entfaltung des geistigen Lebens paßt uns nicht. Das heißt weiter: gegen die Gewalt des Geistes muß nötigenfalls der Geist der Gewalt mobilisiert werden; das heißt zum dritten: Endziel aller Bildung — und damit auch der gesellschaftlichen Weiterbildung — bleibt die geistige Kolchose. Die nachgeplapperte Meinung des bewußt auf einem bestimmten Niveau gehaltenen, leicht lenkbaren Massenkörpers, die Züchtung ideologischer Schlagworte. Volksbildung hieß damals also politische Ausrichtung, geistiger Fußdienst, und ein Lied ... drei ... vier!

GEISTIGER FUSSDIENST ist in dem Hause Felberstraße 42—46, wo wir dem Direktor der Volkshochschule West, Vetter, gegenübersitzen, sc ferne, wie der einstige Verwendungszweck des Esterhäzy-Bunkers in Mariahilf als Auslug und Horchstelle für die Flak und seine jetzige Funktion als Volkssternwarte. Menschen jedes Alters stehen heute auf der Plattform, wo man nur an Ted und Zeit dachte, und schauen in das ewig wirkende Leben der Unendlichkeit. Die Volkshochschule Wien-West hat völlig neue Wege beschritten. Ihr vereinheitlichtes Programm ist keine gewaltsame Nivellierung. sondern eine konstruktive These. Scharf profilierte Persönlichkeiten entwickeln in den Arbeitskreisen die Gedankengänge reiflich erwogener, langer Forschungen. Es ist kein Zufall, daß an der Spitze aller Arbeitskreise ein „Religiöses Seminar“ steht, das Domkapitular und Dompfarrer von St. Stephan Dr Dorr leitet. In einem gewissen Zusammenhange dazu steht der „Philosophische Arbeitskreis“ und wohl auch der „Psychologische Arbeitskreis“. Hier werden Fragen aufgerollt, die unaufhörlich die Oeffentlichkeit beschäftigen: Der Mensch als sein eigener Feind; die Seele als Widersacher des Körpers; Probleme des Geburtenrückganges; Lebensverneinung; Abkehr von Gott als Selbstzerstörung. Von den Vortragsreihen gehört zur gefestigten weltanschaulichen Meinung die Vortragsreihe „Große Kirchenfürsten“ hierher (wo Persönlichkeiten wie der Kardinäle PiffI, Galen, Verdief, raulhaber u. a. gedacht wird). Ein Arbeitskreis, mit dem die Volkshochschule Wien-West weit voraus ist, gilt der Zeitgeschichte. Der Begriff der Zeitgeschichte liegt international bereits fest. Er. kann, richtig aufgefaßt, unzweifelhaft über die Fragen der jüngsten Vergangenheit und ihre Lehren für die Gegenwart Auskunft geben. Was den Menschen von heute die Sicherheit des Lebensgefühls nimmt, was ihn bisweilen in ein unbestimmtes Gefühl der Gegenwartsflucht und Fernsehnsucht hineintreibt, das sind die Folgen geschichtlicher Ereignisse. Nun ist schon nach dem ersten Weltkrieg und erst recht nach dem zweiten Weltkrieg eine derart verwirrende Fülle von Memoiren unterschiedlicher Qualität auf den Menschen von heute hereingestürzt; treiben fragwürdige illustrierte Blätter Geschichte aus dem. Gesichtskreis des Schlüsselloches und der Kammerdienermentalität, daß es nötig ist, Inventur zu halten. Im In- und Auslande sind Forscher und Institute in genieinsamer wissenschaftlicher Arbeit, die bis zu den Quellen zurückgeht, bereit, die Ergebnisse der exakten Wissenschaft aus dem engen Kreise herauszuheben und dorthin zu stellen, wo man lernen soll und muß. Zeitgeschichte wird in der Volkshochschule ohne Leidenschaft geboten. Wie in allen Arbeitskreisen steht es jedermann fiei, sich an den anschließenden Diskussionen zu beteiligen, gegenteilige Ansichten vorzubringen und ihre sachliche Widerlegung zu fordern. Der erste Zyklus dieses in seiner Art einzigartigen Unternehmens umfaßt Vorträge von Dr. Ludwig F. Jedlicka (Zeitgeschichte als Forschungsaufgabe);' Univ.-Doz. Dr. Ernst Topitsch (Die soziologische Struktur unserer Zeit); Doktor Kurt Skalnik (Was wissen wir über die Geschichte der Ersten Republik?) und Univ.-Dozent Dr. Paul Klucke, dem Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München, über „Das Problem der deutschen Widerstandsbewegung“. Mit diesem Arbeitskreis gedankenmäßig verwandt ist die Vortragsreihe „Historische politische Porträts Oesterreichs, 1848—1918, 1918—1938“. Das Wichtigste in dieser Reihe (in der Dr. Funder, DDr. Lorenz, Dr. Skalnik, Sektionschef Fadrus, Vizebürgermeister Weinberger u. a. zu Worte kommen) liegt in der innigen Beziehung des Vortragenden zur Welt, zur Denkweise der jeweils beleuchteten Persönlichkeit. Wer den Thronfolger Franz Ferdinand, wer Dr. Seipel, Masaryk oder Renner kannte, trjigt die Welt von dem Vortragspodium mitten unter die Menschen.

PAPIERENE SCHLAGWORTE - das erklärt ein junger Angestellter des Gaswerkes — habe er satt. Und seine Begleiterin, die bei den Bundesbahnen beschäftigt ist. eine begeisterte Musikfreundin, setzt hinzu: „Und ist nicht auch das Gerede von Wien als der Hauptstadt der Musik bloßes Papier, wenn man es nicht aus dem geschichtlichen Werdegang begreift, was diese Stadt für die Musik bedeutete und — noch bedeuten könnte — wenn ...“, und dann schwieg die Frau. (Wir waren nicht so indiskret, nach der Fortsetzung des Satzes zu,fragen.) Man darf sich nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß Musik — wie übrigens auch Theater und bildende Kunst — in einem luftleeren Räume schwebt, gelingt es nicht, die rund 8000 Konzert- und Theaterbesucher eines Abends der Hochsaison, welche etwa mit drei multipliziert, den Kern einer stets gleichbleibenden Interessenschicht darstellt, zu erweitern — ins Volksbewußtsein hinaus. Themen wie: Der Dirigent; die wissenschaftliche Musikforschung; das musikalische Schaffen; Musikkritik; Selbstbildung; die Anforderung an die Sänger der Oper. Stimmbildung in Verbindung mit der Erlernung des Spiels von Volksinstrumenten sind der Weg über die dünne Schicht der Immer-Anwesenden hinaus. „Nur wenn es gelingt“ — so sagte uns ein Arbeiter des Lobauer Erdöl-Tanklagers — „wieder die Musik zur Feierstunde nach Arbeitsschluß zu machen und womöglich daheim, wo man selbst spielt und Frau und Kinder einen kleinen Kreis bilden — nur dann wird man mit Recht von einer Hauptstadt der Musik reden können. Festspiele und Festwochen allein werden es nie schaffen.“

„Und welchen äußeren Organisationsweg würden Sie vorschlagen?“

„Organisation klingt atonal“, meint der Erdölarbeiter. „Sagen wir: ein wenig Ruhe und Besinnung.“

BESINNUNG. Damit wurde uns unerwartet ein Stichwort gegeben. Der Mensch von heute entflieht, wo er kann, der Besinnung. Er sucht Vergessen — und vergißt sich selbst. Besinnung findet die Frau im „Forum der Frau“ (geleitet von der Landtagsabgeordneten Nora Hiltl); Besinnung der Mann in der Diskussionsgemeinschaft (1. Abend: „Wir und die Halbstarken“; Leitung: Dr. Wolfgang Speiser). Besinnung für Frau und Mann geben die erstmals in Wien, im Vogelsangheim in Meidling, dem einstigen Springerschlössei, abgehaltenen Besinnungstage, welche Direktor Franz Seraph ikus Vetter leitet. Die erste Veranstaltung des neuen Volksbildungsjahres Wien-West hat zum Thema: „Einsamkeit — Gemeinschaft — Der Nächste.“ Wer einmal an einer solchen Einkehr des Geistes teilgenommen hat, der braucht kein weltferner Träumer zu sein, um die alten Parkkronen draußen vor Schönbrunn plötzlich mit anderen Augen anzusehen. Volksbildung ist mit einem Male unwillkürlich in Charakter- und Menschenbildung übergegangen. „Ich habe immer gedacht, die Einsamkeit, in der ich lebe, wäre die Schuld der andern“, sagte eine fünfzigjährige Frau, Mutter eines Kindes, dessen Vater im letzten Krieg blieb, zu uns beim letzten Besinnungstag. „Und ich habe gefunden, daß auch meine gewollte, engumgrenzte Lebensart die Schuld trägt. Ich sah immer nur uns zwei und in den Nächten oft genug den Toten — nie aber die anderen, die Lebenden.“

DIE LEBENDEN. Aus dem Rechenschaftsbericht des Verbandes Wiener Volksbildung ist an klaren Ziffern abzulesen, was die Lebenden taten. Die Volksbildungshäuser Urania, Margareten (Meidling), Wien-West, Aisergrund, Favoriten, Simmering, Hietzing, Ottakring (Hernais), Währing, Döbling, Brigittenau, Wien-Nord und die Künstlerische Volkshochschule verzeichneten im Sommersemester 1956 1473 Kurse mit einer Gesamtzahl von 29.679 Hörern. Das war der Sommer, der bekanntlich jeder Vortragstätigkeit — außer d'en Führungen — feindlich gesinnt ist. Aber schauen wir uns das vergangene Wintersemester an: Da gab es rund 3272 Kurse und 520.256 Besucher. 520.256 — das entspricht einem Drittel der Wiener Bevölkerung; über 100.000 mehr als Niederösterreich Bewohner zählt und dreimal soviel, als das Bundesland Vorarlberg Bevölkerung hat. Aus den Büchereien der Volksbildungshäuser wurden 1955/56 an schöngeistiger Literatur 132.146, an wissenschaftlicher 12.857, zusammen also 145.003 Werke bei einem Bibliotheksbestand von 48.599 Werken verliehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es neben den Büchereien der Volksbildungshäuser noch 44 Städtische Bibliotheken gibt, deren Wert anerkannt im Volksbildungswesen der Stadt ist. Alle diese Büchereien, deren Bedeutung angesichts der Vernichtung privaten Gutes durch den Krieg ungeahnt wuchs, haben der Pflege des Jugendbuches besondere Förderung angedeihen lassen. Inmitten der Beton- und Glaspaläste, inmitten der grauen, alten Häuserfronten, wo sooft kein Grün leuchtet, keine Blume blüht, lebt die mythische Blume der Höhensehnsucht.

DAS JUNGE MÄDCHEN, das dort in dec Felberstraße nächst der Ziegelmauer unterm dürren Geäst der Bäume aufsehend, jetzt vielleicht irgendwo im Blauen einen Schmetterling fliegen glaubt, eine herrliche, ferne Stadt leuchten sieht, weiß nichts von Friedrich Rückerts „Erntelied“, wo fes bei den zu bindenden Garben heißt: „Flechtet auch Blumen, die blauen hinein .. . lange genug hat in Tränen sich baden Kümmernis müssen in furchtbarem Drang stellet an Gottes Altäre die Garben... alle, die nicht in Verzweifelung starben, leben und ernten und hoffen durch ihn.“

Und mit einem Male scheinen dem Heimwärtsgehenden die aufkommenden Schatten der Nacht nur ein Uebergang.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung