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Wandlungen in der englischen Universität der Gegenwart

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Es ist von Kennern der englischen Verhältnisse bereits öfter hervorgehoben worden, daß ein geistiger und struktureller Wandlungsprozeß sich innerhalb der englischen Universitäten vollzieht. Es lohnt sich ein tieferer Einblick in diese Probleme, da dieser Wandlungsprozeß nicht plötzlich ausgelöst wurde, sondern, dem englischen Wesen entsprechend, in langatmigen Reformbestrebungen vorbereitet und herangereift ist.

Eine kürzlich erschienene englische Darstellung* dieser Wandlung von Bruce Truscot „Red Brick.University“, dessen vierte Auflage 1945 erschienen ist, erleichtert uns eine Ubersicht, da sie, von einem erfahrenen Universitätsfachmann geschrieben, in klarer Tiefe und Weitsichtigkeit das Problem aufrollt.

Es handelt sich um das grundlegende Verhältnis des alten und weitbewährten Universitätstypus von Oxford und Cambridge, deren Gründung ins 12. und 13. Jahrhundert zurückreichen, zu dem modernen Universitätstypus, der seit dem 19. Jahrhundert aufgekommen ist und sich neben den alten Universitäten langsam durchgesetzt hat und dessen Vertreter die Universitäten London (gegründet 1827), Manchester (1880), Liverpool (1903), Leeds (1904), Birmingham (1900), Bristol (1909), Sheffield (1905), Reading (J926) und Durham sind. Die modernen Universitäten werden auch Red Brick Universities genannt, da ihre Gebäude in Backstein errichtet werden.

Es würde ein falsches Bild entstehen, wenn man annehmen würde, daß die alten Universitäten von Oxford und Cambridge im heutigen England von dem modernen Typus vollkommen verdrängt werden. Sie bilden immer noch einen starken Anziehungspunkt und üben einen mächtigen Einfluß aus, wenn auch in ihren ehrwürdigen Mauern ein neuer, Geist mit dem aken sich begegnet. Die alten englischen Universitäten waren eher Erziehungsanstalten als Pflegestätten der wissenschaftlichen Forschung in dem Sinne, daß sie nicht aus der Masse ihrer Zöglinge Forsdier- und Gelehr-rengeaerationen hervorzubringen bestrebt waren, sondern typische Eigenschaften des englischen Nationalcharakters anzuerziehen sich bemühten. Daher lag das Hauptgewicht auf dem Collegesystem, wo in strenger, beinahe klösterlicher Disziplin, aber gleichzeitig im engen ' Gemeinschaftsgeist der Schüler, Tutors und Lehrer das Hauptgewicht auf die Erziehung der Charaktereigenschaften, das heißt auf Ausbildung des Willens durch körperliches und geistiges Training, Selbstbeherrschung und Angewöhnung an ' gewisse Regeln der hochausgebildeten Formen des öffentlich-politischen Lebens, gelegt wurde. Es war die große Er-ziehungsstätte für den Typus des englischen Gentleman, wo im edlen Wetteifer des fair play die dafür notwendigen Qualitäten hochgezüchtet wurden. Zu diesem Zwecke wurde in Oxford und Cambridge eine entsprechende Atmosphäre geschaffen, also dieses Etwas, das sich nicht greifen läßt jedoch für die Erziehung der Jugend oft wichtiger ist als abstrakte, lebensabgewandte Lehren. Alte gotische Gebäude, umgeben von uralten gepflegten Rasenflächen, Räume, durchtränkt mit Erinnerungen an historische Persönlichkeiten, wie Wyclif, Milton, Newton, Byron, eine Eßtischplatte, welche ans dem historischen Nelson-Schiff stammt, ah* Portrats von Collegestiftern, dies alles bildet eben dieses Milieu, das, mit alter Tradition gesättigt, oft stärker als Lehrbücher den'Geist der Jugend beeindruckt und gefangennimmt. Wer könnte sich auch einer solchen Sphäre entziehen? Dazu kommt die humanistische Bildung und die religiöse Erziehung. Humanistische Bildung soll nicht etwa als Altertumskunde, sondern als Lebenskunde wirken, das heißt durch vornehme Ausgeglichenheit und maßvolle Harmonie soll die Herausbildung des Charakters nach allen Richtungen abgerundet werden. Die höchste Aufgabe dieser Erziehungsanstalten war, aus ihren Zöglingen diese Typen heranzuerziehen, welche die englische Nation in ihrer Entwicklung zum Empire am meisten benötigte: einen fähigen Staatsmann, Paria-fr mentarier, Klonialorganisator, kurzum einen Mann des öffentlichen Lebens, der mit Selbstbeherrschung, maßvoller Einsicht, trainierter Willensstärke und entsprechendem Gemeinschaftsinn bei hochausgebildetem

Takt die Geschichte des Empire mit-zugestalten imstande war. Es ist nicht zu leugnen„ daß in dieser Beziehung die Colleges in Oxford und Cambridge Enormes geleistet haben. Sie haben den Aufbau des englischen Empire mit ihrem Erziehungssystem in einem Maße mitzubegründen verstanden wie keine andere europäische Erziehungsanstalt. Die meisten bedeutenden englischen Staatsmänner gingen aus ihnen hervor, ebenso groß war ihr Einfluß im Ausland und in den Dominions.

Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß die beiden englischen Altuniversitäteh Eliteuniversitäten und bis ins 18. Jahrhundert hinein die Domäne der damals in England herrschenden Schicht waren.

Nun haben sich große Umwälzungen in der Struktur Englands im 19. Jahrhundert vollzogen, im Zeichen des Maschinenzeitalters, des Liberalismus und der Fortschritte der Naturwissenschaften. Diesem neuen Geist konnten sich die Universitäten nicht verschließen. Er pochte zu heftig an ihre Pforten. Die Folge war, daß ein neuer Universitätstypus, der mit den neuen Zeiterfordernissen erfüllt war, aufkommt und daß es zur Gründung der Red Brick Universities kommt. Es ist wohl auch kein Zufall, daß diese Universitäten in der Hauptstadt und in den nördlichen Industriezentren entstehen. Aber auch Oxford und Cambridge kann sich nicht diesem neuen Geist versperren. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Geist der alten und neuen Universität, die das ganze 19. Jahrhundert ausfüllt und deren Prozeß bis in die Gegenwart reicht und noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.

Für englische Verhältnisse ist diese Auseinandersetzung, das heißt die Art, wie sich der alte Universitätstypus in den neuen verwandelt, besonders bezeichnend. Die Wandlung vollzieht sich langsam in stetigen Reformversuchen, im organischen Wachsen ohne irgendeinen Druck von außen, zum Beispiel des Staates, der sich nie in die Angelegenheiten der Universitäten mischt. Das Wesentliche dieser Entwicklung besteht darin, daß der alte Typus nicht etwa von dem neuen verdrängt wird, sondern, daß sie sich gegenseitig zu durchdringen und zu ergänzen trachten. So wächst in Oxford und Cambridge neben den Colleges mit ihrem gebundenen Erziehungssystem der neue moderne Universitätstypus nach der Umorgani-sierung von 1850 bis 1851 mit Professoren, Vorlesungen und intensiveren Forschungsaufgaben hinein. Neben dem pass course, in dem keine höheren Ansprüche gestellt werden, wird der honeur course eingesetzt, bei dem höhere wissenschaftliche Forderungen gestellt werden. Mit einem Wort, neben dem Collegesystem gewinnt die Universität im modernen Sinn eine höhere Bedeutung. Außerdem wurde der exklusive Charakter der beiden älteren Universitäten weitestgehend gelockert. Durch die Herabsetzung des Kostenaufwandes und Sicherstellung von

Stipendien ist eine breitere Basis für Aufnahme von Studenten aus breiteren Bevölkerungsschichten geschaffen worden.

Interessant sind auch die Wandlungen in den modernen Backsteinuniversitäten. In dem Buch Bruce Truscots finden wir einige klare Formulierungen ihrer Hauptaufgaben. Sie sollen als Forschungs- und Lehrstätten ihre Aufgaben erfüllen. An enter Stelle stehen die Forschungsaufgaben. Es wird eine hingebungsvolle, ausdauernde Forschungsarbeit, welche den Forschungstrieb auch in dem Jüngsten wecken soll, in erster Linie verlangt. Dazu kommt ein systematisches und methodisches Lehren, das gedankenanspornend und stimulierend wirken soll. Beide Aktivitäten zusammen formen den Charakter des Menschen. Gefordert wird die verantwortungsvolle Disziplin des Forschens und Lehrens, denn man entdeckt dabei, daß Methode, Gedächtniskraft, Auffassungsgabe allein weniger wichtig sind als Selbstlosigkeit, Demut, Redlichkeit und Ausgeglichenheit des Urteils. Hier wächst ohne unser Wissen in uns Ehrlichkeit, Großmütigkeit, Liebe zur Wahrheit — oder man erleidet Schiffbruch als Forscher.

Es muß besonders hervorgehoben werden, daß es wiederum Charaktereigenschaften sind, die durchs Forschen und Lehren herangebildet werden sollen, also etwas spezifisch Englisches, das wir bereits im Collegesystem, mit anderen Mitteln verwirklicht, festgestellt haben. Jeder Leerlauf von bloßer Anhäufung von Tatsachenwissen wird abgelehnt. Diese moderne Krankheit wird durch das Postulat, daß das Tatsachenwissen durch neue Interpretierung, Beleuchtung und geistige Durchdringung im Lichte neuer Forschungsergebnisse neu belebt werden soll, beseitigt. Vom Lehrer wird mit Recht verlangt, daß er das Forschungsideal nicht nur intellek-tualistisch vertritt, sondern es mit gutem Beispiel im Leben verwirklicht. Immer und immer wieder wird vom Hochschullehrer Forschungseifer verlangt, der noch nobler ist als das Lehren, da er allein imstande ist, das Lehren zu befruchten. Wo keine Forschung obenansteht, kann keine Originalität oder Wunsch nach Originalität unten entstehen. Dieses Wetteifern mit neuen Methoden, Aneifern zum selbständigen Erforschen — an Stalle von fruchtlosem Wiederholen alten Buchwissens — bildet die Grundbedingung des fruchtbaren Lehrens. Und wie groß auch das Organisationstalent sein mag, wenn es leblose Dinge hervorbringt, wird es bedeutungslos sein. Auch die Zersplitterung der Wissenszweige durch die Überbetonung des Fachwissens, das in England stets perhorresziert wurde und nun eine Gefahr der modernen Universität bildet, wird in den extremen Fällen abgelehnt.

Wichtig ist die besondere Betonung des Gemeinschaftsgeistes der Universität. Die englische Universität ist keine Institution, sondern eher eine Gesell-s c'h a f t. Die Professoren und Lehrer sind nicht im gewöhnlichen Sinn Vorgesetzte der Studenten, sondern eben vielmehr erfahrene ältere Gefährten und Mitglieder dieser Gesellschaft.

In religiösen Kreisen — behauptet Truscot — bildet die Vernachlässigung der Religion auf den modernen Universitäten einige Sorgen. Außer Oxford, Cambridge, Durham und einigen Londoner Colleges, die christliche Gründungen sind, theologische Fakultäten besitzen und religiös betreut werden, verbleiben die meisten anderen Universitäten ohne religiösen Vortrag und Betreuung. Die Ursache dieses Zustandes liegt darin, daß sie in der Zeit von Sektenkontroversen entstanden sind. Nachdem heute die Zeit dieser Kontroversen vorüber ist, könnten alle Konfessionen sich gegen den gemeinsamen Feind des Paganismus zusammenschließen. Ein Studentenkongreß, der 1941 stattfand, hat sich für die Einführung von theologischen Vorlesungen an allen Universitäten ausgesprochen.

Vom englischen Universitätslehrer wird erwartet, daß er sich nicht akademisch verschließt und weltfremd dem Leben den Rücken kehrt. Es wird ihm die sichere Existenz nicht deshalb gewährt, daß er sich vom Leben fernhält, sondern ihm mit souveräner Ruhe, die aus dem Studium und der Gedankenarbeit entsteht, entschlossen ins Gesicht blickt. Sein Urteil wird er im Interesse der Wissenschaft und Wahrheit wägen, da er über alles sprechen kann, was er für recht und billig hält, was ihm durch die ruhmreichste englische Errungenschaft, die immerdauernde Freiheit der Universitäten, garantiert wird.

Das sind, in großen Zügen gesehen, einige Grundideen, welche die Neugestaltung der englischen Universitäten beherrschen. Sie können in mancher Hinsicht zum Gedankenaustausch anregen.

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