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Kann man Politik studieren?

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Was ist Demokratie? Um sie zu definieren, kann man dicke Bücher schreiben. „Demokratie ist Herrschaft durch das Volk und für das Volk", sagte Lincoln in seiner berühmten Rede auf die Gefallenen des Bürgerkrieges. Es blieb die klassische Definition. Demokratie wächst aber nur, wenn eine innere Bindung zwischen Bürgern und Gemeinwesen besteht, wenn die Bürger ein entsprechendes politisches Wissen besitzen. Eine Umfrage in Oesterreich enthüllte auf diesem Gebiete nicht nur Bildungslücken, sondern ganze Schluchten. Nur ein ganz geringer Prozentsatz der Bevölkerung ist in der Lage, die Zahl der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates unserer Republik auch nur annähernd richtig anzugeben. Ganz zu schweigen erst von dem Wissen um die Befugnisse der gesetzgebenden Organe, der Bundesregierung, des Staatsoberhauptes usw. Auf das ungelöste Problem der Staatsbürgerkunde in den österreichischen Schulen hat die Presse mehrmals sAon hingewiesen. Zwar findet man in den Lehrplänen einen Gegenstand „Staatsbürgerkunde" als Anhängsel an den Geschichtsunterricht, aber das wenige, was da gefordert wird, reduziert sich in der Durchführung fast auf Null, weil nämlich die Lehrkräfte, die diesen Gegenstand vortragen sollen, selbst gar nicht dafür ausgebildet wurden. Sehr richtig schloß ein Referat daher mit dem Bemerken: „Der Weg zu einem wirklich fruchtbaren staatsbürgerlichen Unterricht führt erst über Lehrkanzeln, von denen die Lehrerschaft selbst eine Ausbildung in den Problemen von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft empfängt, in die Schulsäle uiid won da aus erst hinaus in das Leben, wo eine staatsbürgerlich wirklich aufgeklärte Generation dereinst befähigt sein mag, die echte Demokratie zu verwirklichen.“

Die Wissenschaften von der Gesellschaft und der Politik haben sich in Ländern wie Frankreich, England und den Vereinigten Staaten ganz anders entwickelt als bei uns in Oesterreich. Bereits 1871 wurde in Paris die berühmte „Ecole Libre des Sciences Politiques“, die wohl die älteste Institution dieser Art in Europa sein dürfte, gegründet; 1895 folgte die Gründung der „London School of Economics and Political Science“ durch den bekannten Reformsozialisten Sidney Webb. Beide Schulen sind inzwischen Bestandteile der Universitäten von Paris und London geworden und gehören zu den bedeutendsten Studienzentren in der ganzen Welt.

Ueberhaupt beweist eine Zusammenstellung der wichtigsten Einrichtungen zum Studium der Politik in Europa und in den Vereinigten Staaten von Amerika, die in einer jüngst erschienenen Studienarbeit der Sozialwissen- schaftlichen Arbeitsgemeinschaft unter dem Titel „Hochschule für Politik —Eine Notwendigkeit für Oesterreich“ enthalten ist, wie sehr die Wissenschaftsorganisation in Oesterreich diesbezüglich anderen Ländern nachhinkt. Die Untersuchung der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft ist gerade jetzt von aktueller Bedeutung, da das Bundesministerium für Unterricht an Plänen für die Neuordnung des Hochschulstudiums in unserem Lande arbeitet und gegenwärtig auch die Errichtung einer Sozialhochschule in der oberösterreichischen Landeshauptstadt eingehend diskutiert wird. (Vergleiche Univ.-Prof. Dr. August M. Knoll in: „Furche“ Nr. 15, 13. IV. 1957.)

Wenn man die Frage aufwirft, auf welche Weise und insbesondere in welchen Schulen jenes Wissen zu erwerben ist, das als Grundlage für eine aktive Teilnahme am politischen Geschehen erforderlich erscheint, so muß wohl vorerst die Frage untersucht werden, ob eine „Wissenschaft von der Politik“ und demgemäß auch ein Studium der Politik überhaupt möglich ist. Die Studie der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft versteht unter dem Begriff „Politik Erscheinungen, die sich von den sonstigen Lebens- und

Wissensbereichen unterscheiden, definiert sie als „das Ringen um die gemeinschaftsnotwendige Ordnun g“. Dieses Ringen spielt sich heute nicht nur im staatlichen oder auch nur im rein rechtlichen Bereich ab. Deshalb können Rechts- und Staatswissenschaft nicht eine eigene „Wissenschaft von der Politik“ ersetzen, wenn sie auch einen wertvollen Beitrag hiefür darstellen. Aehnliches gilt für die Geschichtswissenschaft, für die Soziologie usw.

In der Publikation der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft wird sehr gründlich dargelegt, daß eine Wissenschaft von der Politik es eben mit einem durchaus eigenständigen Lebensbereich unserer Zeit zu tun hat und daß es Aufgabe einer solchen Wissenschaft ist, „d i e positiven und negativen Kräfte, die um die gemeinschaftsnotwendige Ordnung ringen, zu ermitteln und darzustellen."

Die Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft sieht die Notwendigkeit eines „Studiums der Politik" vor allem darin, daß der politischen Tat eine sorgfältige gedankliche Arbeit voranginge. Dies gilt für das politische Leben im allgemeinen und ganz besonders in der Demokratie, als deren Wesen ja auch vielfach die Diskussion bezeichnet wird. Ein Hochschulstudium und volkstümliche Vorträge über Politik könnten sehr wohl dazu beitragen, für die politische Auseinandersetzung, die ja doch eine geistige sein soll, das nötige Rüstzeug in Form eindeutiger Begriffe zu schaffen. Hiezu kommt, daß in unserer Zeit der überaus komplizierten Maschinerie der Gesetzgebung, der Verwaltung usw. der Typus des Berufspolitikers entstanden ist, eines Mannes also, der von der Politik lebt und sie zu seinem Beruf gemacht hat. Während nun der Arzt, der Jurist, der Lehrer usw. ihre genau vorgezeichneten Ausbildungsgänge haben, gibt es für den Spitzenfunktionär der Politik wohl eine Vielzahl von Einzelfächern, die für ihn interessant sind, jedoch kein organisch geformtes Hochschulstudium. So wie es für das praktische Leben eine Pflichtschule gibt, an die sich spezialisierte Berufsausbildungen anschließen, so müßte also auch in unserem Staatswesen endlich eine politische Grundschulung des gesamten Volkes, aber auch eine spezielle gründliche Ausbildung für Berufspolitiker ermöglicht werden.

Die Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft bezeichnet es als erstrebenswertes Ziel, in Oesterreich — wie in fast allen anderen Ländern des westlichen Kulturkreises — eine Hochschule für Politik zu errichten, die bald auch ausländische Studierende anziehen und damit einen weiteren Aktivposten für Oesterreich darstellen würde. Hierbei wird befürwortet, auch an die Tradition der ehemaligen Konsularakademie anzuknüpfen und in das Studium der Politik eine möglichst umfassende Diplomatenausbildung einzubeziehen. Es wird daher vorgeschlagen, das Studium der Politik in zwei Studienabschnitte zu je vier Semestern zu gliedern. Im ersten Studienabschnitt sollten die grundlegenden Fächer enthalten sein (Grundbegriffe des Staates und Rechtes, Wesen und Geschichte der Politik, Soziologie usw.), während im zweiten Studienabschnitt das Studium nach zwei Hauptrichtungen, nämlich Innenpolitik und Außenpolitik, gegliedert werden könnte. Da noch viele Absolventen der einstmals berühmten österreichischen Konsularakademie in aller Welt verstreut leben, würde die wenigstens teilweise Weiterführung ihrer Ueber- lieferung nicht nur einen ideellen, sondern auch materiellen Wert für Oesterreich bedeuten können; es wäre zu hoffen, daß die Schaffung einer Möglichkeit, wieder in Oesterreich gründliche Studien zur Vorbereitung einer Verwendung im außenpolitischen Dienst zu absolvieren, aus der ganzen Welt Hörer anlocken könnte.

Für die Hauptrichtung Innenpolitik werden von der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft vor allem Gegenstände wie Ver- fassungs- und Verwaltungsrecht, Gesetzgebungskunde und Gesetzgebungstechnik, Volkswirt-

schaftslehre und Volkswirtschaftspolitik, Finanzwissenschaft und Staatsverrechnungslehre, Sozialpolitik, Arbeitsrecht, Staatskirchenrecht, Geschichte des Marxismus und des Kommunismus, Geschichte der Arbeitnehmerverbände und der Interessenverbände usw. zum Studium vorgeschlagen, während in der Studienrichtung Außenpolitik die Gegenstände Völkerrecht, Völkerkunde, diplomatische Staatengeschichte, internationale Beziehungen und internationale Organisationen, sowie Konsularwesen, Protokoll usw. empfohlen werden.

Naturgemäß ist die Studienarbeit der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft keine fertige Lösung, weshalb der vorgeschlagene Studienplan nur als Diskussionsgrundlage zu werten ist. Eine Verbindung des von der Arbeitsgemeinschaft befürworteten Studienplanes mit den zitierten Vorschlägen von Professor Knoll könnte wertvolle Ergänzungen bieten.

Da die Errichtung einer Hochschule für Politik weitgehend räumliche und personelle Probleme aufwirft, schlägt die Arbeitsgemeinschaft eine Uebergangslösung in Form der Einführung eines politischen Fachstudiums an den bestehenden rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten vor. Die Berufsmöglichkeiten für den Absolventen eines solchen Studiums wären sehr mannigfaltig. Insbesondere bei einer Kombination des juristischen und politischen Studiums könnte im Staatsdienst überall dort, wo nicht nur bestehendes Recht angewendet, sondern aus den politischen Bestrebungen und Notwendigkeiten neues Recht geschaffen werden soll. - also, in den legistischen Abteilungen sämtlicher Ministerien, Landesregierungen usw. —, ein weites Betätigungsfeld eröffnet werden. Ferner würden die Angestellten von Parteien, Kammern und

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