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Lehrer ohne Bezahlung

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180.000 argentinische Volksschullehrer ließen ihre dreieinhalb Millionen Schüler an einem Novembertag 1970 ohne Unterricht und protestierten, zum Teil in den Straßen von Buenos Aires, gegen ihre soziale Situation.

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180.000 argentinische Volksschullehrer ließen ihre dreieinhalb Millionen Schüler an einem Novembertag 1970 ohne Unterricht und protestierten, zum Teil in den Straßen von Buenos Aires, gegen ihre soziale Situation.

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Dabei ist Argentinien eines der fortschrittlichsten Länder des Halbkontinents. Weniger als 9 Prozent sind Analphabeten. Nur dort gibt es mehr als 100.000 arbeitslose Lehrkräfte (meist Frauen). Aber alle sind sich darüber einig, daß das bisherige Erziehungssystem auf keiner Stufe zufriedenstellend funktioniert; kein Wunder, da das Schulwesen nach seiner Struktur und seinem Inhalt etwa auf dem Niveau von 1880 stek-kengeblieben ist.

In Argentinien ist die allgemeine Schulpflicht seit 1884 eingeführt. Neben den etwa 26.000 Staätsschulen, die von ungefähr 90 Prozent der Kinder im schulpflichtigen Alter besucht werden, gibt es zahlreiche Privatschulen. Einerseits wächst aber die Bevölkerung schneller als die Zahl der Schulen; anderseits verhindert die soziale Situation, vor allem in den Landzonen, weitgehend den regelmäßigen Schulbesuch. Trotzdem sollen fast 90 Prozent aller schulpflichtigen Kinder die unterste Klasse besuchen. Die geschilderten Phänomene wirken sich aber in einer „Schuldesertion“ von mehr als 40 Prozent bei den Grundschulen aus. Die geplante Schulreform soll den ersten Zyklus der Grundschule von sieben auf fünf Jahre herabsetzen, dafür aber eine obligatorische vierjährige Mittelschule bis zum 15. Lebensjahr einführen. Im Sekundärschulwesen, das nicht obligatorisch ist, werden nach den Zahlen der Schulbehörde augenblicklich 23,4 Prozent der Altersklasse von 13 bis 17 Jahren erfaßt. Die Schulpflicht im Sekundärzweig beläuft sich auf 42 Prozent. Am schlimmsten ist die Situation auf den Universitäten. Bei der erneuten Machtergreifung der Generäle, 1966, ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen die Professoren und Studenten der Staatsuniversitäten, besonders in Buenos Aires, vor. Die Autonomie und das Mitbestimmungsrecht der Studentenschaft wurden endgültig beseitigt; an den Universitäten wurde interveniert.

20 Prozent der Professoren traten zurück, vor allem an den Fakultäten für exakte Wissenschaften, Philosophie und Architektur. Auch die Interventoren geben zu, daß sie in keiner Weise der Probleme Herr werden. Hierbei spielt gewiß eine große Rolle, daß die Staatsuniversität von Buenos Aires überlaufen ist. An ihr studieren 50 Prozent aller argentinischen Studenten. Sie muß mehr als die Hälfte der Anwärter zurückweisen. Die sogenannten humanistischen Fächer (Jura, Nationalökonomie und Philosophie) üben trotz aller Klagen über das Defizit an Technikern, Ingenieuren und Agronomen, eine stärkere Anziehungskraft aus, die sich darin auswirkt, daß mehr als die Hälfte aller Studenten „humanistische“ Karrieren wählen.

Das Institut „Torcuato di Telia“ hat errechnet, daß 8 Prozent der in Argentinien ausgebildeten Ingenieure, 6 Prozent der Chemiker, 5 Prozent der Ärzte und 3 Prozent der Nationalökonomen sich definitiv in den Vereinigten Staaten niederlassen. Diese Ziffern alarmieren weniger, obwohl es sich natürlich um die wertvollsten Kräfte handelt. Dagegen wird die Situation und das Gefühl der „Frustration“ der argentinischen Studentenschaft erschöpfend dadurch gekennzeichnet, daß von den 935 Studenten auf 100.000 Einwohner, die in die Universität eintreten, weniger als 50 ihre Karriere abschließen — und von diesen nur ein Viertel in der normalen Studiendauer.

Im Hintergrund steht überall der, Mangel an Mitteln. Während die UNESCO als Norm aufgestellt hat, daß 12 Prozent des Bruttosozialproduktes für Erziehung aufzuwenden sind, stehen in Argentinien nur 4 Prozent zur Verfügung. Aber oft werden auch die bewilligten Beträge nicht ausbezahlt. In Buenos Aires, wo die meisten Fakultäten geschlossen waren, konnten die Professoren ihr klägliches Gehalt nicht kassieren. (Dabei arbeiten in der Juristischen Fakultät drei Viertel der Lehrkraft» unentgeltlich.) Die Assistenten schlössen sich dem Streik des Verwaltungspersonals an und forderten die längst zugesagten und angeblich vom Finanz- an das Erziehungsministerium auch überwiesenen Zulagen. Schließlich erklärten sie sich bereit, den Streik zu beenden, wenn sie einen vorläufigen Zuschuß von monatlich 10.000 Pesos (etwa 600 Schilling) erhielten. Die Antwort war: Nein.

Während so Argentinien feiert, daß der Biochemiker Leloire seinem Lande den dritten Nobelpreis gebracht hat, streiken Lehrer und Professoren. Man preist die Forschung, aber man bezahlt sie nicht.

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