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Millionen Analphabeten

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In den Vereinigten Staaten leben zwischen 23 und 26 Millionen funktionelle Analphabeten. Das heißt, daß über 10 Prozent der amerikanischen Bevölkerung weitgehend des Lesens und Schreibens unkundig sind. Sie können keine Formulare ausfüllen, sie müssen sich im Straßenverkehr an anderen orientieren, sie können keine Lebensmittelschilder lesen, sie sind unfähig eine Speisekarte zu entziffern.

Die Anzahl derer, die nur sehr unzureichende Lese- und

Schreibkenntnisse haben, ist doppelt so hoch und umfaßt 46 Millionen Amerikaner. Voll- und Teilanalphabeten zusammen machen also zirka ein Drittel der US-Be- völkerung aus. Wie ist es möglich, daß in einem technisch so fortgeschrittenen Land, in dem Schulpflicht bis zu 16 Jahren besteht, 13 Prozent aller Siebzehnjährigen nicht lesen und schreiben können?

Seit 1957, als der russische Sputnik amerikanische Erzieher in Panik versetzte und eine Untersuchung des amerikanischen Schulwesens in Gang setzte, hat man wiederholt versucht, die Gründe für das Versagen des US-Erzie- hungswesens zu erurieren. Die jüngste Studie wurde von einer überparteilichen nationalen Kommission unternommen, deren Empfehlungen zur Verbesserung des Schulwesens jetzt nach 20monatiger Arbeit bekanntgegeben wurden.

Die „National Commission on Excellence of Education“ hat einen offenen Brief an das amerikanische Volk veröffentlicht, in dem es einleitend heißt: „Die Bildungsgrundlagen unserer Gesellschaft werden gegenwärtig durch eine zunehmende Welle von Mittelmäßigkeit unterminiert, die unsere Zukunft als Nation und als Volk bedroht. Zwänge uns eine feindliche Macht zu unserer minderwertigen Leistung im Unterrichtswesen, müßten wir es als einen Kriegsakt betrachten.“

Der drastische Bericht der Untersuchungskommission hat eine neuerliche Diskussion um das amerikanische Erziehungswesen in Gang gebracht. Die Situation wird im Fernsehen diskutiert, in Zeitungskommentaren besprochen, in Zeitschriften analysiert.

Wieder einmal werden die Ursachen für das Versagen der Schulen aufgezählt:

Es fehlt an einem einheitlichen Lehrplan, da das Erziehungswesen den einzelnen Staaten unterliegt. Die Minimalanforderungen variieren daher von Staat zu Staat. Es fehlt an Geld, da die Finanzierung der Schulen zu einem Großteil von lokalen Steuern abhängt. Die Wähler in einzelnen Gemeindebezirken stimmen über die Höhe des Schulbudgets ab. Wird es „abgewählt“ — bei der gegenwärtigen Wirtschaftslage keine Seltenheit - dann folgen Entlassungen von Lehrern und Kür zungen im Schulprogramm.

Reiche Vorstadtbezirke haben bessere Schulen als arme Stadtzentren. Lehrer sind unterbezahlt und genießen geringen Status in der Gesellschaft. Die Benotung der Schüler ist nicht streng genug. Kinder werden von Klasse zu Klasse mitgeschleppt und verlassen die Volksschule, ohne lesen und schreiben zu können. Schüler haben die Möglichkeit, vorwiegend Nebenfächer und kaum Hauptfächer zu belegen.

Das Schuljahr ist zu kurz — 180 Tage pro Jahr ist die Minimälvor- schrift! Die Lehrer geben zu wenig Hausaufgaben auf.

Schüler gehen von der Highschool (4 Jahre, 13- und 17jährige Schüler, allgemeinbildend, von allen Schulpflichtigen besucht) ab, ohne eine Abschlußprüfung ablegen zu müssen. Viele „dropouts“ gehen lange vor dem 16. Lebensjahr ab und besitzen kein Highschool-Diplom.

Der Unterricht ist durch Diszi- plinarprobleme und andere Unterbrechungen zerrissen. Lehrer müssen sich mit zu vielen sozialen Problemen, wie Drogensucht, Jugendkriminalität, Kindesmißhandlung auseinandersetzen, die die Lernfähigkeit der Schüler herabsetzen.

Die Empfehlungen der Kommission gehen dahin, diese Mißstände und Mängel zu beseitigen. Erziehungsminister Terrell Bell plant im ganzen Land Gemeindeversammlungen abzuhalten, um

Lokaldistrikte zur Umsetzung der Empfehlungen anzuregen. Er hofft auf „dramatische Veränderungen“.

Erzieher hingegen bezweifeln, daß diese Studie ernsthafte Veränderungen bringen wird, daß Gelder für höhere Gehälter auf getrieben werden können und daß grundlegende Verbesserungen in kurzer Zeit möglich sind. Es würde ein Minimum von 20 Jahren dauern, das Analphabetentum in den USA zu beseitigen, sagt Vy- vyan Harding, Leiterin des Laubach Literary Centers in Milwaukee, und wäre nur dann erfolgreich, wenn kein Volksschulkind mehr die Schule verlassen würde, ohne lesen zu können.

Harding leitet seit 16 Jahren das Laubachinstitut, dessen Ziel es ist, Analphabeten im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Seine Finanzierung stammt aus Privatgeldern. Innerhalb eines Jahres werden dort 1200 Personen von rund 500 Freiwilligen unterrichtet.

Viele Laubachschüler sind auf Grund ihrer Behinderung arbeitslos. Hier bekommen diese des Lesens und Schreibens unkundigen Menschen eine zweite Chance, das, was sie in der Schule versäumt haben, nachzuholen. Aber sie sind die Ausnahme. Für Millionen andere gibt es keine solche Einrichtung. Sie werden ihr Leben lang an ihrer Behinderung leiden und nie voll einsatzfähig sein.

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