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Das fremde Unbehagen

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„WIEN IST EINFACH ZAUBERHAFT!“ Mit diesem begeisterten Bekenntnis verlassen jährlich Hunderttausende von Touristen die österreichische Metropole. Ihre positive Schilderung nach einem kurzen Ferienaufenthalt ist immer wieder die beste und billigste Werbung für Wien und die Wiener.

Neben den Touristen sind es jedoch die ausländischen Studenten, die nach ihrem Studium in Österreich für den guten oder schlechten Ruf unseres Landes in aller Welt sorgen. Die jungen Akademiker von heute werden morgen als Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Politiker und Wirtschaftler die führenden Positionen in Wissenschaft und Technik innehaben und größeren Einfluß ausüben als ein Strom Touristen. Obwohl viele Wiener auf dem Standpunkt stehen „wann's denen da net g'fallt, sollen sie daheim bleiben“, kann es deshalb nicht gleichgültig sein, welchen Eindruck die Studenten aus Ghana und Korea, aus der USA oder Pakistan mit in ihre Heimat nehmen werden.

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„ICH BIN GAST IHRES LANDES.* Erst die Versicherung, daß weder Name noch Bild wiedergegeben werden, öffnet besonders bei den Studenten, die von österreichischer Seite ein Stipendium erhalten, die Schleuse zu einem vorsichtigen Strom der Kritik in beiderlei Richtungen. Gerade diese Stipendiaten haben Wien als Studienort nicht immer selbst gewählt. Die Anschrift „Österreich in Westdeutschland“ auf dem Brief, den der junge Pakistaner von seinen Freunden bekommen hat, zeugt davon, wie wenig die Menschen in manchen Ländern von Österreich tatsächlich wissen. Oft sind es lediglich die Namen Strauß, Mozart und Beethoven, die der Afrikaner, Inder oder Araber vor seiner Ankunft in Wien mit Österreich in Zusammenhang zu bringen weiß.

Auf die Medizinstudenten übt der gute Ruf der alten Wiener Mediziner-Schule noch immer eine starke Anziehungskraft aus. auch wenn dieser Ruf heilte nur mehr teilweise gilt.

Wie die Theaterwissenschaftler — das Wiener Institut genießt einen erstklassigen Ruf — so kommen viele Studenten aus rein fachlichen Gründen nach Wien.

Die Deutschen lockt zudem noch der billigere Lebensunterhalt, während für Inder, Perser oder Pakistaner die Lebenshaltungskosten sehr viel teurer als im eigenen Land sind.

Genau wie früher ist Wien schließlich auch heute noch das erklärte Ziel für ein oder zwei sogennannte „Kultursemester“, mit denen deT ausländische Student die Eintönigkeit seines Fachstudiums unterbricht.

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„ZIMMER GUT, ALLES GUT.'“ sagt der junge Jordanier, der 500 Schilling für ein winziges Kabinett mit Fenster zum Gang bezahlt. Tatsächlich hängt das Wohl- oder Un-

behagen eines Menschen in einer fremden Stadt von nichts so sehr wie von den eigenen vier Wänden ab. Fühlt er sich dort nicht wohl, wird er auch an der Stadt wenig Gefallen finden.

Die Zimmerpreise sind in den letzten Jahren in Wien ständig in die Höhe geklettert. Das Angebot: „Zwei-

bettzimmer, pro Person 1000 Schilling“, bei der studentischen Vermittlung ist längst keine Seltenheit mehr, und bei einem Kabinett zu 500 Schilling muß der Student heute zugreifen, wenn er nicht ein Semester lang unter „den Donaubrücken“ nächtigen will. Die Preise sind nicht höher als in München oder Hamburg, aber es wird in Wien entschieden weniger dafür geboten. Immer wieder sind die Ausländer entsetzt, wenn sie hören, daß fließendes Wasser in der Wohnung, von einem Bad ganz abgesehen, in Wien durchaus nicht selbstverständlich ist. Noch immer gibt es zuwenig Studentenheime, und die Preise sind auch hier

für viele zu hoch. Im Europahaus-Wien in Hütteldorf zahlt der Student 780 Schilling für ein Doppelzimmer mit Frühstück und Nachtmahl. Um 10 Uhr abends ist „Zapfenstreich“, darnach gilt nur noch die Theaterkarte als Passierschein. Besuch wird auch tagsüber nicht geduldet.

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DAS WIENER KAFFEEHAUS ist daher für viele ausländische Studenten der beliebteste Zufluchtsort und wird von allen einstimmig begrüßt. Besonders die jungen Damen sind von dieser

Einrichtung begeistert und sehen in den abgenutzten Plüschsofas und den Mamortischchen das „richtige alte Wien“, wie sie es sich aus Büchern oder Filmen vorgestellt haben.

Mit den hiesigen Gebräuchen nicht vertraut, fassen die Ausländer oft das Servieren eines Glases Wasser als Aufforderung zum Gehen auf, bis sie merken, daß der Ober nichts dagegen hat, wenn sie einen ganzen Nachmittag bei bei einem „kleinen Braunen“ sitzen und lesen. Bob, der Amerikaner, ist begeistert von der Ruhe und „Weltvergessenheit“, die gerade der US-Bürger in Wien sucht und im Kaffeehaus noch heute findet.

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„DIE BERÜHMTE WIENER KÜCHE ist eine Legende. Pariser-, Wieneroder Naturschnitzel schmecken in Wien alle gleich“, behauptet ein Pakistaner. Der Westfale findet die Speisen nicht kräftig genug, die Karte dagegen reichhaltiger als daheim. Nicole aus Paris begrüßt die niedrigen Preise, zieht jedoch die französische Küche vor, der Inder aus Madras vermißt schmerzlich das Schaffleisch auf dem Wiener Mittagstisch.

Die Kritik über das Mensaessen reicht von unflätigen Beschimpfungen, denen sich die einheimischen Kollegen oft genug anschließen, bis zum Lob, daß es ausreichend und gut gekocht sei.

Wie Nandor aus Budapest, der mit 600 Schilling monatlich haushalten muß, kochen viele Studenten abends selbst und leben dabei am billigsten. *

DIE HÄLFTE SEINES LEBENS wartet der Soldat vergebens, heißt es. Auch der Student muß sich im Laufe seines Studiums mit dieser Tatsache vertraut machen. Obwohl der Inskriptionsvorgang an der Wiener Universität im letzten Jahr schon verbessert worden ist, konzentriert sich die Kritik der ausländischen Studenten auf die umständliche Organisation an der Wiener Universität: „Umständlicher geht's nimmer!“, „ein lahmer Betrieb“, „was in anderen Ländern Stunden dauert, dauert hier Tage“, „eine einzige Katastrophe“, „weshalb lernt man nicht vom Ausland?“, „bürokratischer als im tiefsten Preußen!“

Ausländer zahlen in Österreich die dreifachen Studiengebühren. Von vielen wird dies als Ungerechtigkeit empfunden. Am wenigsten protestieren hier die Deutschen, da es für sie trotzdem noch billiger ist als an einer deutschen Universität.

Für andere jedoch, deren Wechsel auch nicht höher als der der Österreicher ist, bedeuten die 1200 Schilling, die ein Mediziner pro Semester bezahlen muß, eine ernsthafte Belastung ihres Budgets. Mit Recht verbittert sind die Ausländer über die

Tatsache, daß sie dann auch noch bei Ski- oder Segelkursen der Österreichischen Hochschülerschaft mehr bezahlen sollen als ihre einheimischen Kollegen.

Niemand von den Ausländern fühlt sich von den Professoren in Prüfungen benachteiligt. „Der Professor weiß doch ganz genau, ob einer nichts weiß oder sich nur nicht ausdrücken kann. Notfalls kann er ja auch auf englisch antworten.“ Besonders die Mediziner und Techniker klagen über überfüllte Hörsäle und katastrophale Einrichtungen der Labors mit völlig veralteten Instrumenten.

„Es liegt nicht an den Professoren“, sagt der amerikanische Medizinstudent, „daß die Wiener Medizin ihren guten Ruf nicht mehr hat. Es fehlt einfach das nötige Geld. Die Voraussetzungen sind nicht mehr gegeben. Noch lebt die Wiener Medizin von ihrer großen Vergangenheit, aber — wie lange noch?!“

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WIEN ALS KULTURSTADT hat dagegen in den Augen der Ausländer auch heute nichts von seiner früheren Bedeutung verloren. Den absoluten Vorrang in der Beliebtheit des kulturellen Angebots hat hier das Wiener Musikleben. Auch Studenten, die aus München, Paris oder Berlin, also gewiß nicht aus der Provinz kommen, sind vom Musikleben in Wien begeistert.

Dankbar werden von den Ausländern die Ermäßigungen verzeichnet, die fast alle Wiener Theater den Studenten gewähren, und es wird immer wieder darauf hingewiesen, daß man durch die Hochschülerschaft praktisch für einen Schilling Burgtheater und Oper besuchen kann. „Das gibt es wohl in keiner anderen Stadt“, lobt ein Iraker. Von vielen Studenten wird jedoch das Fehlen des „intellektuellen Theaters“ gegenüber den Klassikern auf dem Wiener Spielplan bemängelt. „Es gibt keine avantgardistische Bühne. Die modernen Stücke kommen alle erst mit Verspätung oder überhaupt nicht.“ „Das Wiener Theater experimentiert nicht.“

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„DER WIENER IST SCHON LIEB.“ Diesem Lirteil eines Persers schließen sich allerdings nicht alle ausländischen Kollegen an. Oberflächliche Freundlichkeit gestehen die meisten dem Wiener jedoch zu.

Die Deutsche, wie der Inder, der

Pakistaner wie die Japanerin haben vom Wiener das Gefühl, er habe eine „Abneigung gegen alles, was Ausländer ist“. Nandor, der Ungar, nimmt die Wiener in Schutz und meint, es sei das Desinteresse an fremden Dingen, das den Wiener vielleicht als unfreundlich erscheinen lasse. „Der Wiener lebt bloß in den Tag hinein und denkt nicht an Morgen“, sagt der Inder. „Gerade das macht ihn doch so sympathisch“, meint der Deutsche. „Wo gibt es soviele Betrunkene wie in Wien?!“ fragt der Inder. „In jeder

anderen Großstadt“, behauptet der Deutsche.

Nicole aus Paris findet die Österreicher höflicher als die Franzosen, aber unverläßlicher. Die Hamburgerin stimmt ihr zu: „Ich zahle bei meinem Friseur jedesmal einen anderen Preis, außerdem habe ich das Gefühl, es geht in Wien mit einem Trinkgeld alles besser, aber das stört mich an den Wienern.“

„Die Polizei ist einmalig höflich“, sagt der Perser. „Vielleicht zu den Fußgängern, aber ich bin Autofahrer“, entgegnet der Jordanier. „Der Bürokratismus ist in Österreich jedenfalls schlimmer als in Preußen“, sagt der Deutsche, und niemand widerspricht.

Einstimmigkeit herrscht darüber, daß es das vielbesungene „süße Wiener Mädel“ nicht gibt. Allerdings versteht es die Wienerin, sich geschmackvoll zu schminken und elegant zu kleiden. „Elegant, aber immer ein bißchen hinter der Mode her“, findet Nicole. „Auffallend, wie gut die Wienerin ihre Augen ausdrucksvoll schminkt“, stellen die ausländischen Damen neidlos fest. Der untere Mittelstand der Wiener ist jedoch schlechter und ärmlicher gekleidet als die Arbeiter in Schweden, Westdeutschland oder der Schweiz. „Dort ist eben der Lebensstandard viel höher“, meint der Iraker. „Ich glaube, die Österreicher verdienen sehr wenig“, mutmaßt der Inder. *

KEINEN KONTAKT mit den österreichischen Kollegen finden die meisten ausländischen Studenten. „Die Österreicher sind einfach zu oberflächlich und desinteressiert, man kann mit ihnen plaudern, aber nicht diskutieren.“ „Sie sind nett und höflich, aber über eine Zigarettenlänge geht ihre Freundschaft nie hinaus.“ „Sie glauben, man will etwas abschreiben, wenn man sie in der Vorlesung anspricht.“

Obwohl einige Ausländer mit einer Wienerin verlobt oder gar verheiratet sind und kaum über „Kontaktschwierigkeiten“ klagen können, haben tatsächlich viele Ausländer überhaupt keine Verbindung zu österreichischen Kollegen.

Andere dagegen suchen auch gar keinen Kontakt und kennen nicht einmal ihre eigenen Landsleute, die mit ihnen in Wien studieren, wieder andere halten die Kontaktschwierigkeiten für „dummes Gerede“ und haben feste Freundschaftsbande zu Österreichern geknüpft.

NIMMT MAN ALLES in allem, so können Wien und die Wiener, die von den Touristen in aller Welt nur gelobt werden, auch im Urteil deT ausländischen Studenten sich sehr wohl behaupten.

Immerhin antworteten auf die Frage: „Würden Sie noch einmal zum Studium nach Wien kommen oder eine andere Stadt vorziehen?“ von 30 Auslandsstudenten nur zwei mit nein, alle übrigen bejahten, auch wenn die meisten hinter das „Ja“ ein einschränkendes „trotz allem“ setzten.

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