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Schmelztiegel Moskau?

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Wie in Paris, London oder New York gibt es auch in Moskau unzählige Ausländer. Will man aber als Ausländer über die Ausländer in Moskau, also über die NichtSowjetbürger, Sprechen, so muß man eine gewisse Vorsicht walten lassen. Es gibt nämlich viele Sowjetbürger, die man auf den ersten Blick leicht für Ausländer halten kann, die sich aber schließlich als Angehörige einer der etwa 150 Nationen der Sowjetunion entpuppen und in Moskau zu tun haben oder hier wohnen. Diese Sowjetbürger wollen wir also ausklammern, denn ihre Problematik ist ganz anders geartet. Wir wollen uns hier mit den „echten“ Ausländern befassen, das heißt mit Menschen, die in Moskau weilen und einen nichtsowjetischen Paß besitzen. Diese große Gruppe teilt sich in zwei Untergruppen: in die Farbigen, als die Vertreter der Entwicklungsländer, und die Nichtfarbigen, als die. Vertreter der verschiedenen Länder Europas und Amerikas. Eines, das für die Algerier in Paris, die Neger in London oder die Italiener in New York bezeichnend ist, fehlt in Moskau gänzlich: die Slums. Das erklärt sich vor allem da-

Die Herren Studenten

Das Gros der Farbigen sind Studenten. Sie sind nach Moskau gekommen, um ihren Wissenshunger zu stillen und weil man dort alles lernen könne, was sie zu Hause brauchten. Ich bin gar nicht so sicher, daß sie aus politischen Gründen nach Moskau fahren, ich möchte eher sagen, aus psychologischen. Diese Studenten fühlen sich in Moskau weit weniger gehemmt als irgendwo in einer reichen, mit pomphaften Traditionen, Moden und sonstigen Aushängeschildern überladenen westlichen Metropole. Dort fühlen sie sich nicht von supereleganten Herren und Damen und raffinierten, aber erstarrten Gesellschaftsformen in ihrer Arbeit irritiert. Sie können in, -ihrex keunisejieri „Tracht oder in billigen .nzujen und bunten Hemden, in warmen Pelzmützen oder nach einem Parfümladen duftend, wie es Neger manchmal tun, umhergehen, ohne dabei Gefahr zu laufen, unangenehm aufzufallen. Sie können sich also völlig unbesorgt und frei von jedweden Minderwertigkeitskomplexen ihrem Studium widmen. Auch ihre Freizeit gestalten sie nach ihrem persönlichen Geschmack; frei von allen Rücksichten auf Mode und Salonfähigkeit, können sie es sich leisten, im Frack mit grauer Hose und gelben Schuhen tanzen zu gehen, sie können im schwarzen Pullover in der ersten Reihe der Oper sitzen; nicht aus einem importierten Existentialismus heraus, da sie ja gar nicht wissen, daß das, was sie tun, anderswo geradezu Mode ist.

An der Lomonossow-Universität in Moskau dominieren die Chinesen mit ihrem bescheidenen Auftreten. Man sieht sie wohl sprechen, hört sie aber kaum. Ich habe öfter mit ihnen gefrühstückt; so etwa um neun Uhr, zu einer in Moskau noch frühen Stunde. Das Durchschnittsfrühstück eines solchen kleinen, gelben Mannes bestand aus saurer Milch, Kompott, Fisch, Makkaroni, Tee und Fleischlaibchen, Die Reihenfolge variierte manchmal. Diese chinesischen Studenten trennen sich nie von ihren Büchern, auch dann nicht, wenn sie Sport betreiben — und sie betreiben viel Sport. Neger, Araber, Inder

Neben den Chinesen sieht man Neger aller Schattierungen. Sie haben in Moskau arg unter der Kälte zu leiden. Ich glaube, sie sind auch für die russischen Mädchen und die Behörden ein Problem. Jedenfalls lösen die Mädchen dieses Problem leichter als die Behörden. Ich weiß nicht, ob sie im Durchschnitt viel lernen, ich kann nur sagen, daß diese Neger, die ich in Moskau sah und sprechen hörte — und es waren derer nicht wenige — mich mit einer ausgezeichneten Beherrschung der russischen Sprache überraschten. Das Frappierende dabei war, daß sie auch im Verkehr untereinander statt des Englischen oder Französischen die russische Sprache gebrauchten. Wenn die Russen die T.umumba-Universität nur dazu gründeten, um die Farbieen von den übrigen Studierenden zu trennen, dann durch, daß niemand nach Moskau zuziehen darf, der vorher nicht beweisen kann, daß die Frage „Wohnung“ zufriedenstellend gelöst wurde. Damit wird die Entstehung von Slums hintangehalten.

Die Ausländer aus dem Osten und Süden sind selten Touristen. Höchstens einige Japaner oder Inder kann man als solche bezeichnen. Man soll dabei aber die Touristen nicht mit den Politikern und ihren Begleitungen verwechseln, denn farbige Staatsmänner mit Riesengefolge — eigenem und russischem — gehören schon zum gewohnten Bild. In der Riesenstadt fallen sie höchstens noch auf dem Roten Platz, beim Einfahrtstor zum Kreml oder bei den üblichen Besichtigungen auf, in den Theatern aber sind es nur ihr souverän-mildes Lächeln und die servile Haltung ihrer Begleitpersonen, die etwas aus dem üblichen Rahmen fallen. Außerdem behalten sie meist ihre Kopfbedeckung auch an solchen Orten auf, an denen normale Sterbliche auf sie verzichten. Kurz, man erkennt sie sofort, wenn es auch oft schwerfällt, sie nach Herkunft und Stellung einzuordnen. verstehe ich nicht, wozu sie diese Menschen in Moskau quälen, denn klimatisch ist für sie Moskau eine Hölle. Man könnte sie ja auch irgendwo im Süden ihren Studien nachgehen lassen. Ich habe aber den Eindruck, daß der Regierung aus politischen Gründen an einem Zusammenleben der Studenten in der Metropole gelegen ist.

Ein schwierigeres Problem als die Neger scheinen die rührigen, temperamentvollen und unternehmungslustigen Araber darzustellen. Meine Zimmernachbarn waren ein Ehepaar: er Araber, sie eine hübsche, schlanke Russin, eine wissenschaftliche Aspirantin! Sie hatten ein Kind, waren sehr rohrf, -noch sehf verhebt, allerdings: kochen — das mußte der Mann. Die Frau war ja eine' wJsseftscrraftliche Aspirantin...

Wenn dies auch kein verallgemeinerndes Musterbeispiel sein soll und kann, so zeigt es doch, wie bunt und vielgestaltig das Leben auch in

Moskau sein kann. Mit Arabern hatte ich auch einen Riesenkrach erlebt: Irgend jemand hatte festgestellt, daß bei einem Araber im Zimmer Wanzen waren; daraus entwickelte sich eine Staatsaffäre mit Kommissionen, Männern in weißen Kitteln, Ausquartierung, Geschrei und komplizierten Apparaten. Ich nehme an, daß schließlich die Wanzen tot waren, der Araber war jedenfalls irgendwohin verschwunden.

Eine besondere Gruppe bilden die Inder in Moskau. Ihre würdevolle Kleidung, ihre großen, traurigen Augen, ihre ruhige, freundliche Art machen sie beliebt. Sie heben sich von der Masse der Studenten vorteilhaft ab. Öfter sah ich eine junge, schöne Inderin; immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen, unterhielt sie sich in perfektem Russisch mit ihren Kollegen. Die Russen erzählten mir: eine Prinzessin, aus einem märchenhaft reichen Fürstenhaus. Eine wirkliche Märchenprinzessin! Das klang alles wie aus einem richtigen Märchen, ja, damals in Moskau habe ich das Wort „Märchen“ zum ersten Male so richtig erfaßt.

Die uniformen Westler

Und wie steht es nun mit dem Menschen aus dem Westen in Moskau? Ein Russe sagte mir: „Ihr seid alle gleich. Ihr seid gleich angezogen, habt die gleichen Anzüge, gleichen Krawatten und die gleichen büstenlosen Frauen! Ihr sucht bei uns nur unsere Schwächen und blickt voll Mißtrauen, wenn wir euch sagen, daß wir ganz zufrieden sind!“ Diese Pauschalcharakteristik bewies mir nur, wie gefährlich Verallgemeinerungen sein können. In Moskau traf ich außer Österreichern noch Franzosen, Rumänen, Amerikaner, Engländer, Finnen, Zyprioten und natürlich Deutsche. Die meisten sind Touristen, geführt und betreut vom staatlichen Reisebüro „Intourist“. Ein kleiner Teil fährt mit eigenem Wagen, aber das sind Ausnahmen. Dann gibt es noch Diplomaten und Geschäftsleute. Die Diplomaten trifft man in den Theatern, Restaurants und — wie ich hörte — auf den Parties. Da Moskau weit mehr als hundert diplomatische Vertretungen in seinen Mauern hat, sind die

Diplomaten von gesellschaftlichen Verpflichtungen wohl voll ia Anspruch genommen. Gott sei Dank, daß hinter jedem Diplomaten zumindest ein Auswärtiges Amt steht, das ihn pflichtgemäß in der Politik auf dem laufenden hält.

Ansonsten geben sich die Ausländer in Moskau, als gingen sie barfuß auf Glasscherben, vorsichtig, ängstlich um sich blickend. In einem der Theater kam ich zufällig beim Eingang in der Garderobe und während der Pause im Büfett einem Amerikaner in die Quere. Er war nicht allein, und da ich in seiner Nähe saß, konnte ich beobachten, wie er seinen Reisekollegen etwas zuflüsterte; und dann auf einmal starrten sie mich alle voll Neugier und Angst an. Sie hielten mich sicher für einen Geheimagenten. Es gibt auch den Typ der „Überlegenen“, das sind dann diejenigen, die man mit gar nichts mehr überraschen kann. Sie hielten die Werke von Toulouse-Lautrec, Paul Cezanne und Picasso im Puschkin-Museum für Falsifikate oder Kopien ... Sie finden auch, daß die Wohnung von Dostojewski) „fad“ ist und Jasnaja Poljane (das Gut, auf dem Tolstoj sein ganzes Lebjfcn/; verbrachte) „wieder ein Museum“ ist. Dann gibt es noch die „Enthusiasten, wieder ein Volk für sich, denen sogar die kitschigsten Metrostationen gefallen -/und die die langweiligsten sowjetischen Filme für eine Offenbarung halten.

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