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Sowjetische Impression

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Vom Krieg in Afghanistan ist in der Sowjetunion offiziell nicht die Rede. Wer Kontakt mit Sowjetmenschen hat, erfährt aber mit der Zeit doch, wie sie darüber denken.

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Vom Krieg in Afghanistan ist in der Sowjetunion offiziell nicht die Rede. Wer Kontakt mit Sowjetmenschen hat, erfährt aber mit der Zeit doch, wie sie darüber denken.

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April 1980. Tauwetter in Leningrad. Die wenigen Fußgeher scheinen auf der Flucht vor der Nacht

Beim Taxistand sehe ich einen Mann und zwei Frauen, eine der Frauen stützt sich auf die Begleiter. Der heimliche König Rußlands heißt Wodka. Der Mann fragt mich, in welche Richtung ich fahre. „Novoismaüowski Prospekt“, sage ich.

„Glücklicher Zufall“, sagt der Mann, „wir fahren in dieselbe Straße“, und, mit einem Seitenblick auf die stehend einschlafen-

de Frau: „Es gibt im Leben Augenblicke, wo wir nicht mehr Herren unser selbst sind... aber diese Frau trägt eine Wunde, die nie heilen wird... ihr Sohn...“

„Hat sie ihn verloren?“ frage ich.

, Ja und nein“, sagt er.

„Genier* dich nicht, erzähl' es ihm doch“, sagt nun sie selber, sich von seinem Arm aufrichtend, „stört dich, daß er ein Fremder ist? Sag ihm ruhig, Kolja, was meinem Sascha geschah. Wissen Sie, was Afghanistan ist?“

Der Mann sah sich ängstlich um. „Sie wissen ja... offiziell gibt es in Afghanistan keine Kämpfe... es ist aber nicht wahr.“

Ich vermutete eine Provokation, zuckte mit den Achseln. Dies schien die Frau als Provokation zu empfinden. „Es ist ja noch nicht so spät, kommen Sie zu

uns, und Sie werden sehen!“ meinte die Frau.

Wir bekamen ein Taxi. Meine neuen Bekannten schwiegen. Dann kamen wir in ihre Wohnung. Ich sah einen sitzenden Burschen ohne Beine, beide amputiert, das Gesicht noch verbunden, nur Nase und Mund frei. Meine Anwesenheit war ihm gleichgültig.

„Das hat Afghanistan meinem Sascha angetan“, sagt die Frau, „er war ein guter Sportler, er hat gern getanzt, und nun? Dieser Rollstuhl - und man muß froh sein, wenn man einen bekommt.“

In der Küche sagte der Mann zu mir: „Es ist tragisch. Aber er lebt. Viele Mütter bekommen ihre Söhne im Sarg zurück.“

Nach dem traditionellen Glas Wodka brachte mich der Mann zur Tür. Zu Fuß ging ich das Stück Weg zu meiner Wohnung. Alle wissen, was in Kabul los ist, dachte ich—auch wenn in den offiziellen Informationen kein Wort erwähnt wird. Ich dachte an die Äußerung eines ehemaligen Geschichtsprofessors, jetzt Tontechnikers, den ich im Hotel getroffen hatte: „Wir werden lange in Afghanistan bleiben — und es wird schrecklich für die Einheimischen sein...“

In der Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft in einer Moskauer Vorstadt attackierte mich, den afrikanischen Studenten in Sowjetrußland, ein vielleicht 50 Jahre alter Mann: „Wie lang noch muß man eure Ärsche ernähren? Wir haben selbst nichts zu essen, aber euch Neger und Araber und

diese Hure Afghanistan muß man ernähren!“

Ein anderer nahm ihn am Kragen, zog ihn zur Seite - zu mir sagte er: „Genosse Fremder, hören Sie nicht auf ihn! Er ist betrunken!“

Ein anderer mischte sich ein: „Ist es nicht wahr? Wir führen Krieg dort, unsere Söhne gehen drauf oder kommen als Krüppel zurück, aber es wird verschwiegen ...“ Auch der Betrunkene schimpfte weiter vor sich hin. Die anderen schwiegen.

Die prominenten Intellektuellen drücken sich vorsichtiger aus. Aber auch mancher von ihnen gab mir zu verstehen, wie er über die Angelegenheit dachte. Einer sagte: „Hof f en wir halt, daß sich die Intervention in Afghanistan nicht so abspielt wie die von 1940 in den baltischen Staaten. Denn Afghanistan hat ja dieselben Völker und Sprachen wie unsere zentralasiatischen Republiken und wir haben eine lange gemeinsame Grenze. Und die internationale öffentliche Meinung würde eine Annexion schließlich so vergessen, wie die der Baltenstaaten.“

Im Jänner und Februar halten die Universitäten Winterferien. In dieser Zeit werden studentische Delegationen aus dem Ausland nach Moskau eingeladen. Dabei werden regelmäßig Abstimmungen veranstaltet, mit denen der Kreml versucht, sich Rük-kendeckung für seine Intervention in Afghanistan zu verschaffen.

Die Reaktionen sind verschie-

den. Aber der größere Teil der Organisationen der Afrikaner, Araber und Lateinamerikaner und viele Westeuropäer, die nach Moskau gekommen waren, bliesen schließlich doch ins sowjetische Propagandahorn.

Und der Krieg geht weiter. Der Mann auf der Straße, der durchschnittliche Sowjetmensch, den man im Laufe eines jahrelangen Aufenthaltes doch einigermaßen kennenlernt, lehnt ihn ab.

Eine Schuldirektorin sagte zu mir, während afghanische Studenten auf der Universität tagten: „Wie viele werden die noch dorthin schicken? Es ist doch nicht normal, daß unsere Kinder in diesen Bergtälern sterben! Und die hier... die blasen sich auf. Sie sollen selbst nach Afghanistan

gehen und sich dort gegenseitig umbringen. Wir haben in den Kolchosen und Fabriken genug zu tun!“

In der Öffentlichkeit wird geschwiegen. Man hat gelernt, mit diesem Krieg zu leben. Es gibt keine Feiern für die Gefallenen. Und der einzelne wendet sich seinem Privatleben zu.

Ich lernte auch einen Mann kennen, der seinen Sohn gleich im ersten Jahr nach dem Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan verloren hatte. Er sagte: „Wir können nichts tun. Wir ziehen es vor, nicht daran zu denken...“

Lenin wird in der Sowjetunion oft zitiert. Nicht zitiert wird sein Ausspruch:,.Nur die Wahrheit ist revolutionär!“

Oer Autor lebte mehrere Jahre als afrikanischer Student in der Sowjetunion.

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