Lob der Stadt

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Eine disziplinierte Liebeserklärung mit pastoralem Schluß.Bekenntnis eines einstigen ländlichen Sechskanters zur Urbanität.

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Eine disziplinierte Liebeserklärung mit pastoralem Schluß.Bekenntnis eines einstigen ländlichen Sechskanters zur Urbanität.

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"Ich wohne lieber in Berlin unter Wienern als in Wien unter Kremsern" Anton Kuh Ich habe die Kremserinnen und Kremser viel zu gern, als daß ich mich nicht unverzüglich entschuldigte. Nicht nur für das Zitat. Sondern auch für das Entzücken, mit dem ich es gleich an den Anfang stelle. Aber es spiegelt so gültig das Wichtigste am Schönsten der großen Städte, daß es unwiderstehlich war.

Das Krems, das Kuh meinte, war ja nicht das heutige. Das hatte noch keine Fußgängerzone, kein Avance-Hotel, keine Kunsthalle, keine Donau-Uni und keinen unvergleichlichen Klarinettisten und Jazzbandleader wie Prof. Friedrich. Es war das Krems der zwanziger Jahre, weit kleiner als heute und unvergleichlich ländlicher. Die Kremser zeigten die betuliche Langsamkeit der Selbstzufriedenen. Die Sprache war vorsichtig. Neue Philosophien entstanden da selten, Revolutionen nie. Die Kremser hatten schöne Kirchen und feste Gebräuche, an den Rändern ihrer engen Grenzen wogten Wein und Weizen und gegen Norden hin auch bald der Wald. Dieses Krems war musikalisch nur durch Beethovens sechste Symphonie darstellbar, die sogenannte "Pastorale". Bei allen äußeren Merkmalen einer kleinen Stadt war alles zutiefst ländlich. Den Kremser, der ins unendlich weit entfernte Wien fuhr, kannte man irgendwie heraus, so wie man sich heute noch zutrauen darf, einen "Hollabrunner" oder "Mistelbacher" aus der Menge zu filtern.

II. Wie anders waren damals schon die Wiener, gar die Berliner. Da waren in den weltberühmten Hotels Sacher und Adlon viele Herrschaften zu finden, die schon einmal ein Flugzeug betreten hatten, per Schiff nach Amerika gekommen waren, die ein scheinbar nutzloses Interesse an entlegenen Gegenden wie Argentinien und Südafrika zeigten und, berauscht von technischen Höhenflügen, gierig auf alles waren, was die Zukunft veränderte. Auch Philosophievorlesungen waren übervoll. Die Zeitungen, die jene Herrschaften lasen, die auf dem Kurfürstendamm oder dem Graben saßen, hatten oft großes Format - Medien, die einer erstklassigen Bildung und Sprache verpflichtet waren und dem renaissancehaften Geist der besten Großstadtbürger gerecht wurden.

Diese Bürger verstanden einander ziemlich gut, nicht nur, weil ihnen der Kopf wichtiger war als Nike-Schuhe oder Gummistiefel, sondern weil sie auch eine genormte Sprache sprachen, die in Feuilleton und Kabarett weiterentwickelt und geschärft wurde: Hochdeutsch.

III. Man soll das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Natürlich gibt es auch auf dem Land und in den Kleinstädten Geist, und manchmal flieht ein großer urbaner Bürger den lästigen Lärm der Big Towns und zieht sich wie Martin Heidegger auf die Alm, Viktor Frankl auf die Rax oder Wystan Hugh Auden nach Kirchstetten zurück.

Doch der Geist der wirklichen Großstädte ist im Kern überlegen geblieben. Er hat jene Zutaten, die man im Pastoralen schmerzlich vermissen muß: Grandezza, Leichtigkeit, vor allem aber Liberalität, eine hohe Toleranz gegen Andersdenkende, im Idealfall sogar Lust am Widersprüchlichen.

Immer und immer wieder muß man die Merkmale der Sprache anführen. Sie ist der Gral, in dem die wesentlichen Vektoren zum Kristall schießen oder zur Gewalt sich verklumpen. Die Sprache des Landes ist immer lauter, immer gröber, immer körperlicher als jene in den Geisteszentren der Stadt. Ich halte mich politisch für liberal und sehe das meiste "Konservative" mit größter Nervosität, doch verhehle ich nicht mein Entzücken, wenn ich zwei ältere Gentlemen im Cafe Imperial beobachte, der eine mit der "FAZ", der andere mit der "NZZ" bewaffnet (oder mit "Presse" und "Independent" etc.), und von Zeit zu Zeit nehmen sie die Lesebrille von der Nase und diskutieren einen Aspekt der Hartwährungspolitik Österreichs oder neue Einsichten über Churchills Wirken in Indien, und jeder läßt den anderen ausreden, und dann nehmen sie einen Schluck "Zweite Pflückung Darjeeling" und lesen weiter. Ah, und welcher Schock, wenn du gleich danach, von deinem Sportwagen rasch aufs Land getragen, ins Wirtshaus eintrittst, wo jeder den andern überschreit und wo man einander noch erregt die Hemdknöpfe abdreht beim Dischkurs - beides probiert, kein Vergleich.

Logisch auch, daß die wesentlichen Institutionen des Geistes in der Stadt versammelt sind, die Theater, Museen, die große Architektur, die Galerien, die Wiener Cafes mit ihrem unvergleichlichen Pulsschlag eines Schiffsdiesels, und jene großen Buchhandlungen, die eigentlichen Paradiese.

Schade übrigens, daß ich bei der Aufzählung der Geistesinstitutionen das Parlament auslassen mußte. Es ist momentan ein Wirtshaus auf dem Land.

IV. Es mag so klingen, ist aber keine Verächtlichmachung des Landes. Wie sollte ich auch gemein sein, da ich von daher stamme? Aber gerade die Kenntnis beider Seiten befähigt mich, die Vorzüge und Nachteile beider zu erkennen. Daß mein Pendel stark in Richtung "Stadt" ausschlägt, hat neben den angeführten Faktoren noch mit drei anderen zu tun: 1. Die relative Fremdenfreundlichkeit: So liebevoll, wie ich von Wien aufgenommen wurde, wurde in meinem Dorf noch niemals ein Städter aufgenommen. Selbstlose väterliche Freunde schliffen an meinen Kanten. Man übersah großzügig Mängel der Kleidung. Sprachliche Eigenheiten überhörte man. Man lobte meine Talente, motivierte auf Teufel komm raus und verließ sich darauf, daß der ländliche Sechskanter schon rund werden würde, rollte er nur lange genug durch die Innenstadt.

2. Die Gnade der Anonymität: Wirklich frei bist du nur in der Stadt. Auf dem Dorf bewegen sich immer die Vorhänge. Das unbedingte Gekanntwerden und Beobachtetwerden und wie ein Gegenstand Besprochenwerden, dieses unzerreißbare Netzwerk der Tratschweiber kann bei liberalen Geistern zu Nesselfieber und Haarausfall führen. Wie schön dagegen die Stadt. Da kannst du in einem Cafe die Theorie der Welle, in einem anderen die Theorie der Materie vertreten, und keiner zeiht dich der Wankelmütigkeit. Du kannst sogar - gerade hier in der Furche ist mir das Beispiel angenehm - an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit deutlich unterscheidbaren Damen gesehen werden, ohne daß der eiligst benachrichtigte Pfarrer dich am dritten Tag fragt: "Mein Sohn, die Liebe zu Frauen ist kein Makel. Sie ist gottgewollt. Sie will sorgsam geprüft werden. Konntest du dich schon entscheiden?"

3. Die Grausamkeit des Landes: Sie hat natürlich mit der Härte des dortigen Lebens zu tun. Das Landleben ist nicht Eton. Dennoch ist es schwer erträglich, wenn in einem Atemzug und scheinbar kalt über den Darmverschluß der Kuh Gundi und den Krebs des Nachbarn Hans gesprochen wird. Mag sein, daß die Herzensbildung, die man dabei vermißt, ein Zeichen von Schwäche wäre. Wahrscheinlicher ist, daß eine Bildung des Herzens ganz einfach mit jener schönen urbanen Bildung zu tun hat, die man am Lande selten und in der Stadt, wenn man will, so überreich erfährt.

Im Grunde ist all das, was bisher angeführt wurde, in dramatischer Qualität längst niedergeschrieben. Man lese das Gesamtwerk von Thomas Bernhard, der mir mit jedem Jahr mehr abgeht, welch ein Verlust.

V. Immer öfter kehre ich jetzt aufs Land zurück. Den Fünfzigjährigen amüsieren Hektik und Lärm der Stadt nicht mehr wie früher. Nach und nach werden Natur und Stille wichtiger als Hotelbars und Hochhäuser. Ich verstehe jetzt Heidegger, Frankl und Auden besser. Dazu eine menschliche Erkenntnis: Die Landbürger und Bauern können als Einzelne, einmal näher gekannt, wunderbar sein, voller stiller Talente, oft sogar witzige Philosophen mit einer eigenen Tonne in der Sonne wie Archimedes.

Letzten Endes wird es, für Chinesen logisch, im Wege von Yin & Yang auf ein Happy End hinauslaufen: ein Leben in der dialektischen Spannung von Stadt und Land, drei Tage hier, drei Tage da, ein Tag im Ausland - das Beste aller Welten suchend. So wird sich zum Lob der Stadt auch wieder das Lob des Landes schlagen.

Noch aber bin ich nicht soweit. Noch ist mir eine gewisse überhebliche Boshaftigkeit des Stadtliebhabers eigen. Mit dieser sage ich: Krems ist jetzt auch schon weiter. Es stieg um eine Liga auf. Weshalb wir den Kreis dieses Essays mit einer Abwandlung des Zitats von Anton Kuh schließen: "Ich lebe lieber in Wien unter Kremsern als in Krems unter Heidenreichsteinern."

Der Autor ist Mitherausgeber des Wirtschaftsmagazins "trend"

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