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Stifter heute ist stifter gestern. ein blick ins internet reißt ihn fast vom hocker. läßt ihn aufgekratzt in seiner haut hin und her wetzen - schürfen nach information & forschungsergebnissen über sein leben samt literatur. fanny & amalie stecken, je nach zeitraum und örtlichkeit, ihre köpfe zur arbeitszimmertür herein. stifter brummt sich und ihnen eins; surft und googelt in seinem pc herum. hat, als er mit 32.300 eintragungen unter eigenem namen konfrontiert wird, irgendwann doch die nase voll und lehnt sich verschnaufpausierend zurück.

in oberplan gehen die uhren heute anders. in wien sowieso. und in linz, ebenfalls an der donau, selbstverständlich auch. dort, am adalbert-stifter-platz 1, wird mit seinem erbe buchstäblich hausgehalten. mit seinen hinterlassenen, mittlerweile längst x-fach zerpflückten, ausgeweidet-gewerteten und zerfledderten pfunden gewuchert. vergeistigter nachruhm, weiterhin viel diskutierter, ist alles, denkt der heute von seinen eigenen damaligkeiten umfächelte stifter 2003 ff. in der causa lentos drückt er, nach anfänglichem kopfweh, ein auge zu und blickt durch ... auf die urfahraner markt- und ars electronica-seite der stadt; das pöstlinbergsche hügel- & hinterland, den haselgraben, kirchschlag, aigen-schlägl, friedberg, oberplan. er spaziert an der donaulände auf & ab, die hände hinter dem rücken verschränkt, und versucht so viele funken wie möglich aus seiner jetzt&damals-kombiexistenz zu schlagen. spazieren - das sagt sich so leicht. sein gehen ist mehr ein schräges, für den betrachter kaum wahrnehmbares hüpfen von einem bein aufs andere. von jenem des alternden, verfressen-frustrierten ehehäftlings, kunstsammlers, landesschulinspektors und seinem leben ein rasiermesserscharfes ende-machers in spe auf das des heute von der reinkarnationsbehörde auf ein neues ins leben geschickten und es federleicht in die begabten hände des zeichners, musikanten und dichters nehmenden lebens-künstlers durch & durch.

manche führen doppelexistenzen, ich werde als solche geführt, brummt er in seinen dreitagebart. stifter zupft verlegen an seiner ba-cken- und kinnladenumschnürung herum. nach außen hin würdevoll, dem gewünschten rahmen entsprechend. innen aber ... es schüttelt ihn wie eine sonnenblume, die zu lange im schatten gestanden ist. ein paar blätter segeln beinah gleichzeitig zu boden und landen auf einem grasbüschel - schmuck angeordnet wie von zauberhand. er tritt, ob des anblicks ebenso entsetzt wie entzückt, von einem bein aufs andere, spürt, wie die füße in den schuhen und die schuhe im erdreich versinken. als er mitbekommt, dass vazierende wurzeln witterung aufgenommen haben und in seine richtung hin unterwegs sind, stampft er in einem letztmöglichen augenblick heftig auf und entledigt sich mit zügigen schritten des sperrangelweit aufgerissenen lippenpaares aus vergangenheit und zukunft in die vorerst noch rettende gegenwart. dort wartet fast niemand auf die produkte des erneut auf zeitreise geschickten artists in resistenz. will jemand mich genau beschreiben, tönt es aus zeitgenössischem mund, so sei ihm das wörtchen widerstandsbeamter nahegelegt. denn die kunst, so sehr sie widerstand leistet und auf widerstand trifft, bedarf, um in bestform hervorgebracht zu werden, diszipliniertheit und arbeitsmoral - also dessen, was den einem größeren ganzen dienenden beamten im idealfall auszuzeichnen vermag.

könnte vom alten sein, denkt stifter redivivus. es schüttelt ihn wie einen durch alle tv-kanäle gezappt und dabei außer ekel & langeweile nichts getankt habenden bewohner eines immer genauer erforschten planeten, an dessen zauber der mensch immer schamloser rührt.

ein blick aufs alte wien, vom sankt stephansturme aus, und schon relativieren sich zeiten und räume; empfindungen, befürchtungen, vorstellungen und wunsch. vom wagenraum, aus dem große mächtige wagen, in eine ganze reihe aneinandergehängt, von furchtbaren, unbändigen rossen gezogen, hervorfahren ... steht da zu lesen. weiters: wie majestätisch das ist! und der mensch, das körperlich ohnmächtige ding, habe das alles zusammengebracht. die furchtbar gewaltige naturkraft, blind und entsetzlich, habe er wie ein spielwerk vor seinen wagenpalast gespannt und lenke sie mit dem druck eines fingers. und so werde er auch andere, noch innigere, noch grauenhaftere, seinem dienst unterwerfen und allmächtig werden in seinem hause, der erde. die welt werde immer schöner und großartiger - fast sei es betrübend, sterben zu müssen!

mittlerweile, gut eineinhalb jahrhunderte später, wird an der eisenbahn herumgedoktert und -dilettiert, dass dem fahrgast graust; ist der mensch längst in die luft gegangen, um ganz andere überblicke zu gewinnen als die quasi-göttlichen vom kirchturme aus. und das sterbenmüssen, denkt der zeitgenosse mit dem ganzen 20. jahrhundert im seelen-rucksack, ist genauso mehr oder weniger betrüblich wie gestern, heute, morgen. reine geschmacks- und reinkarnationssache, monsieur!

herr hofrat zucken instinktiv zusammen und zurück? keine angst - es geht ohnehin nicht, das über-die-zeit-hinwegspinnen von mehr als vermutungen, gedanken & spielen freier fantasie. doch was bis jetzt nicht sein konnte, kann ja durchaus noch werden, allein mit diesem gedankengut und abenteurertum in herz, hirn & sack ist der mensch dorthin gekommen, wo er sich heute zeitweise bewegt - körperlich zumindest in der schwerelosigkeit. abgehoben im guten wie im eher nicht so guten. die in ihren zeiten noch völlig undenkbaren blicke herab aus der mittlerweile sowas wie all-um-fassenden vogelperspektive sind heute fotografierter, gespeicherter alltag. wir wollen uns langsam, aber sicher selbst vergewissern, wo und wie gott wohnt. jenes magazin, das zuallererst und exklusiv eine homestory über seine eigenen?vier?wände? im kasten hat, wird den vogel aller vögel abgeschossen haben. uns lässt dieses leicht perverse mittelding aus eingebettet- und ausgestoßensein zu gleichen teilen einfach keine ruh. ohne nicht etwas bisher unbekanntem auf der spur zu sein, ist es die menschheit einfach nicht. sie dreht immer schneller an den knöpfen von immer zahlreicher werdenden maschinen und geräten und glaubt so, der zeit eines schönen all-tages ein schnippchen schlagen zu können. denkbar auch das. ebenso gut möglich, dass die zeit höchstselbst zeit-weise zurückschlägt, allzu frech gewordene finger zurechtstutzt und korrigiert. anders formuliert: für kurz oder länger in die zeitmaschine eingebaut, schlägt der mensch in dem von eigener hand immer kleinförmiger zugerichteten zeitraum immer wilder um sich. seine ruh ist hin ... längst schon und vermutlich für längere zeit.

man ist mittlerweile dort gelandet, wo man hinwollte - ein vier-beiner zwar, aber doch so etwas wie im gleichschritt von herz, hirn & gehwerkzeugen: in der kleinen urig-feinen konditorei des robert szep in der schönbrunner straße zwo6acht. die sitzgelegenheit ist schmal, der hofrat schnauft. die cremeschnitten leuchten, der weichselstrudel hat leider seinen freien tag. es ist einer aus der reihe spätsommer/frühherbst. die frisch-frechen temperaturen in der früh sind alles andere als leicht aus den federn gekommen. das gespräch, getunkt in leise melancholie, dreht sich bald über topfentorte, cremeschnitte, naturtrüben apfelsaft, früchtetee und die tassen- und teller-ränder hinaus:

und - überrascht vom hier und heute?

ja und nein.

wer die kunst ausübe, haben sie einst bemerkt, müsse fast mehr sein als ein mensch, der ihr nicht unterliege. eine aussage von haltbarkeit und dauer. gilt auch heute noch. der übermensch ist es, der in einem schlummert und dann und wann geweckt werden will.

der dennoch gottgefällige, darf ich einwenden, mit frevelhaftem übermut ist man noch niemals weiter geflogen als auf die nase. da sei gott vor, solange es menschen gibt!

einverstanden. es geht demnach um die dosierung der natürlichen droge mut - dem überlebensmittel schlechthin.

die zweite seelische naturgewalt nicht zu vergessen: die liebe. namentlich die zur kunst. sie ist mir teuer geblieben bis zu meinem tod. sie allein hat ausgehalten, wenn liebe, freundschaft, ehrgeiz und tatenlust gelogen haben und geflohen sind.

trotzdem aber, wenn ich auf ihr einstiges dasein und wirken zurückblicken darf, haben sie ein leben lang um nichts sehnsüchtiger geworben als um freundschaft und selbstlose liebe, sind dabei aber immer tiefer vereinsamt.

es muß mit der kindheit zu tun gehabt haben; den ersten stunden, tagen, wochen, monaten und drei, vier Jahren. damals hat sich mein schicksal entschieden. ich habe kürzlich wieder in den rückblicken gelesen, die ich anlässlich meines letzten besuches in oberplan verfasst hatte. es heißt da in etwa, wenn ich mich recht entsinne: ... weit zurück im leeren nichts ist da so etwas wie wonne, ja ein entzücken, das gewaltig fassend, fast schon vernichtend in mein wesen gedrungen ist und dem nichts mehr im späteren leben zu gleichen vermochte.

der fluch der frühen wonnen, die später - verzeihen sie den modeausdruck - durch nichts mehr getoppt werden können, übertrumpft?

ja, so ist es wohl. auch nicht mehr erreicht. annähernd höchstens.

das restliche leben ist also nichts anderes als ein versuch, sich einer im großen ganzen glücklichen kindheit anzunähern. mit täuschend ähnlich gearteter gattin anstelle der mutter, mit kunstkostbarkeiten statt dem spielzeug und dem bestreben, sein erwachsenes leben derart immer wieder auf kindesbeine zu stellen; glücksmomente zu horten, wann immer es geht?

ja, ja, 3 mal ja.

auch ich habe ihre niederschrift von damals im kopf. das weg-weisende herzstück zu ihrem leben. frappierend dabei ist für mich ein gemeinsames detail, das mir in gewissen abständen als beeindruckendes negativ aus jenen kindertagen vor augen tritt und im gemüt implodiert.

und zwar?

sie haben einen satz gebildet; sich der mutter gegenüber mit dem satz "mutter, da wächst ein kornhalm!" ausgedrückt. woraufhin ihre großmutter geantwortet hat: "mit einem knaben, der die fenster zerschlagen hat, redet man nicht." auch mir war ähnliches widerfahren. ich hatte einen stein nach einer taube geworfen, und derselbe landete im fenster des benachbarten wirtshauses. die folge war ein großer schrecken plus hausarrest. mir unvergesslich, diese szene im dämmrig-dunklen donautal. zum landschaftsarrest rund um die uhr fiel der über mich verhängte hausarrest besonders strafverschärfend aus.

ich verstehe. seltsam, diese vergleichbarkeit. ein verbindendes band. ich verstehe nur zu gut.

bei ihnen hatte es ja noch tiefer greifende wirkungen, wenn ich mich recht erinnere.

ja, ja, keine frage, so war es wohl. die mutter hat wirklich kein wort mit mir gesprochen damals. und ich erinnere mich ganz dunkel, doch dafür umso einschneidender, dass darob ein gänzlich ungeheures auf meiner seele zu liegen kam.

die frau des konditors hat den zahlen!-ruf überhört, ist aber trotzdem flugs zur stelle; ganz so als hätte sie mitgelauscht. kein disput, wer wen einlädt. der mit der heutigen währung vertraute und - wenn auch nur knapp - bestückte hat die ehre und das vergnügen, wie er dem schattenmann an seiner seite gesteht.

kaum vor der tür gelandet, wird man durch zauberhand von einander getrennt. der mann des hier und heute zittert vor freude über den dialog mit dem großen alten, eigentlich gar nicht mehr wahren, dennoch aber unheimlich gegenwärtigen mann der deutschsprachigen literatur. einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten erzähler der weltliteratur - wie es ein anderer mann, vorname: thomas, vor gut einem halben jahrhundert eindringlich treffend zu formulieren verstand.

auslauf tut not. die paar schritte über die verkehrshölle der grünbergstraße und hinein durchs meidlinger tor - schon entfaltet der park von schönbrunn seine wohltuende, augen und seele streichelnde kraft.

Reinhold Aumaier, geb. 1953 in Linz, lebt als Schriftsteller, bildender Künstler und Musiker in Wien. Erste Publikation: "Briefe an Adalbert Stifter" (1982). Jüngste: "Augenausfischerei" (2004)

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