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Eine Begegnung mit Peter Rosegger

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In meinen ersten Universitätsferien, anfangs Juli 1907, begleitete ich meine Verwandten, eine behagliche, dicke Tante mit ihren Kindern, einer halbwüchsigen Kusine und einem Vetter, der eben die Aufnahmsprüfung ins Gymnasium bestanden hatte, nach St. Wolfgang, hauptsächlich wegen ihes Reiseziels, denn ich hatte von klein auf eine große Vorliebe für jenen schönen, stillen Flecken und seine Kirche mit dem wunderbaren Altar Michael Pachers und dem Umbau der Bogengänge, welche, Bild an Bild gereiht, den spiegelnden, blaugrauen See und die schöngeschwungene Bergkette mit ihren tiefen Einschnitten und ihren einprägsamen, bemoosten oder kahlen Felsenhäuptern durchblicken lassen.

Die ersten Tage waren voll Licht und heißem Glanz; wir holten Bootsladungen gelber Seerosen — jede eine kleine goldene Sonne — aus den schattigen Buchten, schwammen stundenlang in der glitzernden Bläue, pflückten in Zinkenbach große Sträuße von duftenden Waldorchideen und Zyklamen. Plötzlich aber, nach einem Unwetter, das alte Ulmen entwurzelte und die Seewellen meereshoch aufschäumen ließ, war die heitere Glorie vergangen, und es setzte nach Flammenzucken, Donnerkrachen und brausendem Sturm ein stilles, dauerhaftes Rieseln, ein braver Salzkammergut-Schnürlregen ein. Darauf nun waren wir gar nicht eingerichtet, das Seehotel so wenig wie wir. Es hatte dazumal noch keine Gesellschaftsräume gegeben, der große Speisesaal war bei dem trüben Wetter düster und wenig einladend, von unseren drei Zimmerchen bot keines genügend Fassungsraum für vier Personen zugleich. Als abgehärtete Leute hielten wir uns, wenn wir den täglichen Regenschirmspaziergang zum Leuchtturm hinter uns hatten, meist in der gedeckten, aber nach drei Seiten offenen und recht zugigen Glasveranda auf, wo die beiden Kinder uns zwei Erwachsenen zu ihrem Lieblingsspiel „Dichterquartett“ einfingen und festhielten. Das war ein Mittelding zwischen einem Kartenspiel nach Rummy-art und einem Lehrbehelf, bestehend aus sechzig Karten, welche die recht hanebüchenen Holzschnittbildnisse von fünfzehn österreichischen Dichtern, und den Aufdruck von vieren ihrer Werke, eines davon rot hervorgehoben, zeigten.

Es versteht sich, daß wir unsere beiehrsamen Karten unter allerlei harmlosen Scherzen abspielten, unsere Lieblinge nannten wir mit Kosenamen, weniger sympathischen Dichtern gaben wir ihre vollen Titel und Würden. Es ging dabei ungefähr folgendermaßen zu: „Kannst du mir, liebe Martina“, begann meine Kusine, „vielleicht die .Gefesselte Phantasie' vom Ferdl geben?, — Seufzend gab Ich das Blatt her. „Danke schön. Vielleicht kannst du mir noch den ,Alpenkönig und den Menschenfeind' abtreten?“ — „Leider — oder vielmehr erfreulicherweise nein, gib mir also meine .Gefesselte Phantasie' zurück und deinen .Verschwender' dazu. Du, Fritz, hast sicherlich den .Bauer als Millionär'?“ — Nein, da bist du zum Glück im Irrtum, Martina!“ rief Fritzl sehr aufgeregt. „Mutter, gib mir den .Alpen-könig', von dir, Martina, bekomme ich den Verschwender' und die .Gefesselte Phantasie', und du, Elly, gibst mir den .Bauer als Millionär' — fertigl“ Fritz, der in seinem Blatt ursprünglich kein einziges Raimund-Stück gehabt, legte als erster ein Quartett ab. — „Jetzt aber möchte ich von Eligius Freiherr von Münch-Belling-hausen, genannt Friedrich Halm ...“, ging es weiter. Wir hielten nicht viel von Halm, darum titulierten wir ihn nach seinem Rang, zuweilen hieß er nur kurz „der Baron“. Anastasius Grün war „der Graf“ schlechthin, Eichendorff aber, doch auch ein Freiherr, war für uns „der Seppl“. Grillparzer wurde respektlos und unpathetisch „der Franzi“ genannt, Rosegger hieß schlicht „Petri Kettenfeier“, wir wir uns das mysteriöse K. seines Vornamens richtig gedeutet hatten. Dieser Name nun gibt das Stichwort ab für die seltsame Begegnung, die ich berichten will.

An einem naßkalten Abend saßen wir nech dem Nachtmahl, in unsere Lodenmäntel gehüllt, beim Schein einer einzlgen elektrischen Birne und nahe der schützenden Hauswand (wie immer seit dem Wettersturz hatten wir die Veranda ganz für uns) bei unserem Lieblingsspiel und riefen beschwörende Namen auf, worunter freilich nur die Tante und ich uns etwas Wesenhafteres vorstellen konnten als die konventionellen Holzschnittbilder auf den Karten andeuteten. Nach einer Weile, als sich die dicke, freundliche Wirtin längere Zeit am Nebentisch aufhielt, merkten wir erst, daß dort, in einem dunklen Havelock, den breitkrempigen Schlapphut tief in die Stirn gedrückt, noch jemand saß. Gerade rief mein kleiner Vetter, in seinem Spieleifer vielleicht überlaut, .jetzt möcht ich von Petri Kettenfeier Rosegger ...“ und dann fügte er den Titel irgendeines Roseggerschen Romans hinzu.

Da fiel ein schmaler Schatten auf die beleuchtete Tischplatte, und eine dünne, freundliche Stimme frug: .Ich hab da grad meinen Namen rufen hören, was will man denn von mir? Peter Rosegger heiß ich nämlich ...“

Wir sahen erschrocken und verblüfft auf, vor uns stand ein schmächtiges Männchen mit feinen, geistigen oder geistlichen Zügen, recht blaß und ein wenig durchfurcht schon war sein Gesicht, das Auge aber jung, lebendig und forschend.

Meine Tante sagte einige passende Worte, das Spiel erklärend, und bat den Dichter bescheiden, doch an unserem Tisch Platz zu nehmen, er tat es bereitwillig, es war ihm sichtlich ein Vergnügen, daß sein Ruhm bereits Dichterquartettsreife erlangt hatte und daß sein Name neben Grillparzer, Stifter, Raimund, Nestroy, Lenau unter die österreichischen Klassiker eingereiht war. Mein kleiner Vetter aber sperrte Mund und Augen auf, ganz benommen und überwältigt von dem Wunder, daß eines unserer Dichterbildnisse mit Haut und Haar, Wettermantel und Schlapphut aus der Spielkarte herausgetreten war, um sich an unseren Tisch zu setzen, und er blickte verstohlen um sich, als erwartete er nun, daß hübsch der Reihe nach auch Franzi Grillparzer und der Eichendorff-Seppl lebendig heraufbeschworen aus der Finsternis ihrer Abgeschiedenheit in das Licht unserer bescheidenen Lampe kommen und sich zu uns setzen würden.

Am nächsten Morgen standen die Berge in jenem feuchtblauen, kühlen Licht, das im Gebirge nach langem Regen schönes Wetter verheißt. Wir überredeten die Tante, den klaren Tag zu einem Ausflug an den Mondsee zu nützen; an der Landungsbrücke trafen wir, den Überfahrtsdampfer erwartend, mit Rosegger zusammen. Er begrüßte uns sehr lieb, und sah nun im Frühlicht, mit seinem Kapuzenmantel und dem blassen, kleinen, durchfurchten Gesicht halb wie ein weltflüchtiger Mond — halb wie ein einsamer Wurzel- und Waldgeist aus. Auf dem Schiff gesellte er sich zu mir, nach unserem Fahrtziel fragend. Das war ja auch etwas für mich“, sagte er bedauernd, .aber ich muß jetzt heim, da fahr ich über Ischl.“ — „Schad“, sagte ich, .heut war doch so schönes Wetter.“ — .Schad, sehr schad“, bestätigte der alte Dichter, „aber so geht's im Leben, immer wenn's schön wird, muß man fort.“

Und dann stellte er eine Frage an mich, die mich recht in Verlegenheit setzte. „Sagen S' mir, Fräulein, welches von meinen Büchern hat Ihnen deni am besten gefallen?“ — Was sollte ich antworten? Zu lügen hatte ich nicht gelernt — und die Wahrheit würde für uns beide gleich peinlich ausfallen. „Die Schriften des Waldschulmeisters“, sagte ich endlich. „So? Und warum denn?“ — „Weil es das einzige Ihrer Bücher ist, das ich gelesen habe. Und auch das nicht ganz, nur was davon in unserem Gymnasiallesebuch war.“ Freilich hätte ich, dank dem Dichterquartett, recht gut ein paar Titel herunterleiern können, „Jakob, der Letzte“, der „Gottsucher und „Peter Mair, der Wirt an der Mahr“, aber zu schwindeln lag mir nicht, und angesichts dieses redlichen guten Blicks wäre es mir noch schwerer gefallen als sonst. „So ... so...“ brummte Rosegger, indem er sich sein stoppeliges Kinn rieb. „Sie sind doch schon erwachsen — achtzehn, schätz ich...“ — „Schon etwas darüber“, warf ich berichtigend ein. — „Ja so sind die jungen Mädeln heutzutag: nichts im Kopf als Spitzerin und Band und Tand und allerhand! Und den Fußerln schaut man's ja an, daß sie nur drauf warten, daß ihnen zum Tanz aufgespielt wird. Schön ist das ja, jung sein und sorgenlos! Aber es kommt für uns alle eine Zeit, die gar nicht nach Walzer klingt, und da ist's schon gut, wenn wir daheim Tröster halten, die uns, sobald es uns kühl ums Herz wird, wieder warm machen. Warten S' nur, Kinderl, Ihnen werden auch einmal Bücher die liebsten Freunde werden. Und dann denken S' auch an den alten Rosegger.“

Der Dampfer legte an, der Dichter reichte mir seine kühle, leichte Hand und ging mit wehendem Mantel über die Schiffsbrücke ans Ufer. Ich sah ihm nach, bedauernd, daß der Abschied so schnell gekommen war, und zugleich mit schlechtem Gewissen. Denn hatte ich nicht, im Wunsch, eine Lüge zu vermeiden, erst recht Verstellung geübt? Mit keinem Wort hatte ich der Annahme des alten Herrn, ich wäre ein eitles, unwissendes Ganserl, widersprochen, hatte ihn ruhig dabei gelassen, daß mein Tag mit Spitzerin und Band anfing und mit einem Tanz beschlossen wurde. Wohlweislich hatte ich verschwiegen, daß ich Studentin war, Germanistin in jenen ersten Semestern, ehe ich auf Kunstgeschichte und Geschichte umsattelte, und daß auf dem Zirbenholztisch meines Zimmerchen im Seehotel allerlei Literatur lag, über die Roseggers schmallippiger Mund sich wohl zu einem abschätzigen Lächeln verzogen haben würde. Mit Recht — denn manches, das mir damals überwältigend neu, pak-kend und hinreißend erschien, ist inzwischen längst ausgekühlt, verblaßt und auf die höchsten Regale meiner Bücherei gewandert, wird nur mehr zum Abstauben von dort heruntergeholt. Den Rosegger aber habe ich in greifbare Nähe gestellt. Er veraltet so wenig wie das un-verwelkliche Leben des bäuerlichen Alltags mit Pflügen und Eggen, Aussaat und Ernte. Der frische Harzgeruch der ernsten Tannenwälder weht mir entgegen, sooft ich eines seiner Bücher in die Hand nehme: „Jakob, der Letzte“, oder .Der Gottsucher“ — und während des Lesens meine ich, das feine Lächeln und das gütige Auge des alten Dichters freundlich ermahnend auf mir ruhen zu fühlen.

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