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Niemand hilft ihnen

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DAS ALLGEMEINE BÜRGERLICHE GESETZBUCH aus dem Jahre 1811 sagt im Paragraphen 1044, daß die Verteilung der Kriegsschäden nach besonderen Weisungen von der politischen Behörde bestimmt wird. Zweifellos hatte man damals, noch mitten in den napoleonischen Kriegsunternehmungen stehend, ein untragbares Gefühl für Eigentum des einzelnen, für Recht dieses einzelnen, aus den Handlungen einer von ihm nicht zu bestimmenden Macht keinen Nachteil zu empfangen. Dieser Paragraph mit der hohen Hausnummer ist keine Hausnummer geblieben. Er wurde mehrfach, 1848, 1866, 1878 in der Monarchie angewandt, ja sogar die Erste Republik hatte 1918 eine innere Beziehung zum 1044.

ÖSTERREICH NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG hatte rund 180.000 Bombengeschädigte, das sind, mit den Angehörigen gerechnet, 400.000 bis eine halbe Million Menschen, die vor dem Nichts standen. Menschen, die gleichwohl mit beiden Händen zupackten und Schutt schaufelten; Menschen, die Darlehen aufnahmen in der Hoffnung, es werde eine umfassende Regelung der Kriegsschäden unternommen. In Niederösterreich und in Wien, kurz, im Osten des Staatsgebietes, waren die Schäden und die betroffenen Menschen am zahlreichsten. Allein die Industrie in Niederösterreich (ohne die privaten Wohnungen, ohne den Hausrat) mußte ihren Verlust auf 500 Millionen Schilling beziffern; in Wien hieß der analoge Betrag 300 Millionen. Wer heute durch Wiener Neustadt fährt, sieht reichlich Ruinen. Aber man glaube nicht, daß diese hart getroffene Stadt der Ort sei, der in Oesterreich am schwersten litt. Hainfeld, im Triestingtal, 19 Kilometer südlich von Sankt Pölten, 50 Kilometer südwestlich von Wien gelegen, verlor 98 Prozent seiner Häuser! Sieben Male ging die Front des Krieges über sie hinweg, sieben Male wechselte der Ort seinen Besitzer. Man gehe heute durch Hainfeld und spreche mit den Einwohnern. Man wird keine sanften Töne hören.

WIEN FLÖTET AUCH NICHT. Vier Beispiele für tausende. Nummer 1: Der Mittelschullehrer. Erzieher der Jugend, Wahrer der Vaterlandsliebe, bei der nächsten Feier der Festredner. Der Mann wurde völlig ausgebombt. Seine der Lehrtätigkeit dienende reichhaltige Bücherei ging verloren. Stück um Stück mußte er alles nachkaufen. Gewiß: er hat Kredit als Festbesoldeter erhalten, aber mit einer Frau und drei Kindern hat er jetzt solange abzuzahlen, bis er im pensionsreifen Alter sein wird. Nummer 2: Der Kaufmann mit 26 Angestellten. Lebte elf Jahre in einer Bretterbude auf eigenem Areal unter Dachpappe und hat heute tatsächlich sogar — ein Lehrmädchen. Fall 3: Herr B., Besitzer eines der bekanntesten Kaffeehäuser im Prater. Dort tanzte man nach Strauß, dort spielte man Lehär und Stolz, daß im Prater wieder die Bäume blühn. Dieser Mann hat durch die Kriegsereignisse alle Angehörigen verloren. Als er aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, präsentierte man ihm vorderhand die Gas- und Stromrechnung, denn er hatte in der Ferne vergessen, am 12. März 1945 Gas und Strom abzumelden! Für die Angestellten, die der Tod mit sich nahm, war man durchaus gesonnen, Nachzahlung der Krankenkassengebühren zu verlangen! Fall 4: Der Mann, der im Eifer des Aufbauwillens und angesichts einer bestehenden Verordnung über Kriegsschäden und ihre Vergütung einen Kredit aufnahm, erlebte es, daß am 16. Juni 1948 das Wohnhaus-Wiederaufbaugesetz beschlossen wurde, das praktisch die Kriegsschadenverordnung rückwirkend auf 27. April 1945 außer Kraft setzte. Das Ansuchen des Besitzers um Entschädigung wurde demnach abgewiesen. Da er die Zinsen für den aufgenommenen Kredit nicht mehr zahlen konnte, schritt man zur Versteigerung, ia auch an die Delogierung von eigenem Grund und Boden wurde gedacht. War der Mann etwa so kühn gewesen und hatte den Bauplatz untervermietet? Eine Bretterbude gebaut? Wer weiß!

ALLE VOM KRIEGE BETROFFENEN STAATEN haben gesetzlich eine Vergütung der Kriegsschäden festgelegt. Das kleine, volkarme Finnland schüttete vier Milliarden aus. Westdeutschland mit dem Lastenausgleichsgesetz (die verschont Gebliebenen haben von dem Vermögen, das sie 1948 besaßen, die Hälfte in 25 Jahresraten an einen Fonds zu zahlen, der idie Geschädigten beteilt) hat bis heute 16 Milliarden DM (96 Milliarden Schilling) ausbezahlt. Der erste Satz des Kriegsschäden betreffenden französischen Gesetzes spricht klar aus, daß die Verheerungen nicht den einzelnen, sondern die Nation als Gesamtheit getroffen haben. *

ÖSTERREICH GILT IN ALLER WELT ALS OPFERBEREITES LAND. Wo immer eine Katastrophe sich ereignet, wo immer Tränen fließen, Menschen vor den Trümmern ihrer Habe und vor den Gräbern ihrer Lieben stehen, war unser Oestereich hilfsbereit. Es wird bei dem nächsten Lawinenunglück, beim nächsten Hochwasser nicht anders sein, es kann nicht anders sein. Nun: man wird sogleich auf die Wohnhaus-Wiederaufbaudarlehen verweisen. Ihre Bedingungen haben nicht den typischen Charakter menschlicher Hilfe. Es bleibt keine Gabe, es ist ein Dar-Lehen. Man wird sodann auf die Hausratdarlehen weisen. Die zweite Hälfte des Wortes sagt genug. Immerhin ist es bemerkenswert, daß ein Sechstel der Hausratsdarlehenswerber von ihrem Ansuchen wieder zurücktrat. Aber schwerlich, weil man das Darlehen nicht brauchte. Oesterreich hebt ferner eine Wiederaufbausteuer ein. Nach der Darstellung der zuständigen Stelle waren diese Darlehen nur zur Ankurbelung der Bauwirtschaft und des Gewerbes gedacht. Immer öfter kommt es übrigens vor, daß die Baugründe veräußert, sodann Häuserspekulanten in die Hände fallen, die mit den Grundanteilforderungen kein schlechtes Geschäft machen.

IN DER NÄCHSTEN ZEIT WERDEN VERSAMMLUNGEN STATTFINDEN. Aber wohl auch solche der Bombengeschädigten — nach allen Nachrichten, die aus Oesterreich in Wien einlangen. Schon gibt es Kinos in Niederösterreich, die vor dem Film ein Diapositiv mit der Frage einschalten, was die Abgeordneten zu tun gedenken. Schließlich wird sich die politische Haltung von etwa 400.000 bis einer halben Million Menschen als Wahlfaktor nicht unterschätzen lassen. Die Bombengeschädigten sind keine politischen Fanatiker. Sie bilden keine Partei im herkömmlichen Sinne. Diese Männer und Frauen lieben ihr Vaterland, sie sind bereit, alle nur tragbaren Opfer zu bringen.

SIEBEN PUNKTE WERDEN SICH UNABWEIS-LICH ZEIGEN. Der erste heißt: Schadensbestandaufnahme; der zweite: Aufbringung der Mittel;der dritte: Bemessung und Zuteilung der vorhandenen Mittel unter sozialen Gesichtspunkten; der vierte Punkt heißt: Soforthilfe in den Fällen offensichtlicher Not. Es hieße den Radikalismus züchten, baute man Wolkenkratzer und spräche man von einem Wohlfahrtsstaat, wenn tausende Menschen unter die Räder kommen. Der fünfte Punkt hat die vorderhand möglichen Erleichterungen zu behandeln; das ist eine Sache des Finanzministers und der nachgeordneten Aemter und Behörden. Punkt 6: Das sind jene Schäden, welche durch die Zustände der verflossenen Jahre den Kriegs- (Bomben-) geschädigten noch zusätzlich zugefügt wurden; Punkt 7 hätte jene Möglichkeiten zu prüfen, die eine Einbeziehung aller übriger Gruppen von Kriegsgeschädigten im Rahmen eines zu beschließenden Kriegslastenausgleichsgesetzes ermöglichen.

DROHEND ÖFFNET SICH EINE KLUFT, die quer durch das Volk geht. Von ganz anderer Seite, als man es sonst gewohnt ist, ganz ohne ideologische Betonierung wird das Fundament eines neuen Klassenkampfes sichtbar. Hüten wir uns über die Kluft zu schauen an den jenseitigen grünen und besonnten Hang. Unsere Füße könnten unversehens abgleiten.

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