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Die Totgeschwiegenen

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Wieder einmal ging eine Budgetberatung zu Ende. Man debattierte um viele Milliarden. Die Wünsche sprengten jeden Rahmen. Nur einem Wunsche scheint man heute wie gestern aus dem Wege zu gehen. Es ist nahezu ein Komplott des Schweigens über diese Sache gebreitet. Es ist, als ob es für die Politiker ein strenges Gebot gäbe: Du sollst dieses Problem nicht mit Namen nennen!

Und doch handelt es sich um kein geringes Problem, es geht um eine der größten Aufgaben der Nachkriegszeit: um eine endlich brauchbare Lösung der Frage der Vergütung für die vielen Kriegssachgeschädigten.

Der öffentlichen Meinung ist dieses Problem durch die Betriebsamkeit der Konjunktur aus dem Gesichtskreis geraten. So scheinen sich Regierung und Parteien der Meinung hinzugeben, daß sie mit dem Ablauf der Einreichungsfrist am 31. Dezember 1960 endgültig der Mühe enthoben seien, ihre unbrauchbaren Leistungen auf diesem Gebiet noch einmal revidieren zu müssen.

Ob nun Regierung, Parteien und öffentliche Meinung sich dessen bewußt sind oder nicht, das Versagen in diesem Punkte bleibt eine offene Wunde am Volkskörper, wirkt wie eine latente Krankheit. Vielleicht ist mancher geneigt, dies für eine Übertreibung zu halten. Es ist wahrlich keine Übertreibung, denn die gerechte Hilfe für die Kriegssachgeschädigten ist durch ihre moralische, politische und wirtschaftliche Strahlung von eminenter Bedeutung.

Vor allem ist die moralische Strahlung von mehrfacher und tiefgehender Art. Wer möchte da zum Beispiel aus dem Bilde, das er von Österreich in seinem Herzen trägt, jene große Hilfsbereitschaft missen, welche vor nun gerade vier Jahren gegenüber den Ungarnflüchtlingen bewiesen worden ist? Welche Welle der Begeisterung riß damals das ganze Volk mit sich fort zu vorbildlicher Hilfeleistung! Das war die hell leuchtende Strahlenwirkung der moralischen Großtat. Und die ganze zivilisierte Welt bezeugte Österreich hiefür warme Sympathie und spendete hohes Lob. Im Falle der Bombengeschädigten wäre es nicht anders. Zum Beweis für das freudige Echo im eigenen Lande sei es gestattet, an die Nationalratswahlen 1956 zu erinnern. Eine Welle der Begeisterung schlug damals dem Bundeskanzler entgegen, als er sich für eine meisterhafte Lösung des Problems einzusetzen versprach. Wie sehr man sich in der Parteileitung der moralischen Strahlenwirkung dieses Versprechens bewußt war, das beweist am besten das ad hoc geschaffene Plakat: Das Bild des Bundeskanzlers mit dem Satz: Er hilft allen! Das Echo war nicht nur eine Welle der Hoffnung unter den Geschädigten, sondern weit darüber hinaus eine Welle freudiger Zustimmung bei allen, sogar von jenseits aller Parteigrenzen. Das Wahlergebnis hat es bewiesen. Es wäre eine arge Täuschung, das Wahlergebnis von 1956 lediglich auf die Freude über den Staatsvertrag zurückführen zu wollen. Jeder Zweifel darüber wird vom Wahlergebnis 1959 schlagend widerlegt. Die Freude über die in Aussicht gestellte Meisterleistung, über den Edelmut der Staatsführung gegenüber den Geschädigten des Krieges war durch die beschämende Vernachlässigung der Erfüllung nicht bloß bei den Geschädigten ins Gegenteil umgeschlagen. Die sozialistische Propaganda hat diese schwer begreifliche Haltung mit scharfen Worten gegeißelt und als abschreckendes Argument ausgenützt. Der verhängnisvolle Stimmenverlust der ersten Regierungspartei war denn auch die deutliche Folge der Mißachtung der moralischen Strahlung dieses Problems. (Die zweite Regierungspartei hat daraus Nutzen gezogen, aber ihren schönen Worten vor der Wahl nicht die geringste schöne Tat nach der Wahl folgen lassen.)

So liegt das Problem noch immer als Hypothek auf dem moralischen Bereich unseres Staatswesens. Das Wort manches Politikers: „Was wollen S' denn, wir haben doch ohnedies das Menschenmögliche getan“, ist eine sehr üble Rede. So unintelligent kann einer kaum sein, daß er nicht empfände, wie unwahr diese Rede ist. Es ist weit eher anzunehmen, daß in den Politikern der geheime Wunsch schlummert, daß diese Nachkriegsaufgabe Nr. 1 schon längst bestens gelöst worden wäre. Sie scheinen sich aber offenbar selbst die geistige und charakterliche Kraft nicht zuzutrauen, die zu einer solchen Meisterleistung notwendig wäre. Es wird ihnen aber diese Leistung nicht erspart bleiben, denn diese Hypothek wird sich nicht von selbst tilgen, auch nicht durch das Absterben der unmittelbar Betroffenen, also mit Hilfe der Leichenbestattung.

Wenn auch die moralische Auswirkung einer guten oder schlechten Lösung an erster Stelle steht, so bleibt die Strahlung im politischen Bereich kaum an Bedeutung zurück. Die Hunderttausende unmittelbar und mittelbar von Kriegsschäden Betroffenen fühlen sich durch die Mißachtung ihres Anliegens zutiefst verletzt. Sie sehen sich vom Vaterland verraten, verstoßen, als Haufe von Ansprüchlern geschmäht. Daran könnte im Einzelfall selbst die größte Vaterlandsliebe sterben.

Diese Verbitterung wird noch gewaltig verstärkt durch die Nachrichten darüber, welche überwältigenden Leistungen in anderen Ländern für die Geschädigten erbracht worden sind. Glücklich zum Beispiel jene Österreicher, die in München ihren Betrieb, ihre Wohnungseinrichtung verloren haben! Sie haben schon längst ihre Vergütung zuerkannt bekommen, wovon die Anzahlung darauf ein Mehrfaches von dem be trägt, was in Österreich die Höchstentschädigung darstellt.

Schließlich tritt zur moralischen und politi sehen noch eine wirtschaftliche Strah lung des Problems. Angesichts der derzeitigen Konjunktur ist man leicht geneigt, darauf völlig zu vergessen. Im Zusammenhang mit VorschJä gen zur Reform der Parteiprogramme sind auch Äußerungen laut geworden, daß man jene besonders berücksichtigen müsse, die aus irgendeinem Grunde den Anschluß an die Konjunktur nicht finden konnten. Wer ist in erster Linie berücksichtigenswert, wenn nicht der, der durch die Kriegskatastrophe unverschuldet um Hab und Gut gekommen ist, der durch die verzweifelten Anstrengungen zur Wiederaufrichtung seiner Existenz in Schwierigkeiten geraten ist? Was wäre da näherliegend, als daß man diesen Staatsbürgern mit ausreichender Kapitalbeihilfe und höchster Kreditbegünstigung schnellstens unter die Arme greift? Doch eher hört man von 100-Millionen-Krediten für Neuerrichtung von Betrieben, während man die Inhaber kriegsgeschädigter nicht weit davon liegender Betriebe wegen viel kleinerer Kredite mit faulen Ausreden abspeist.

Und doch wird mancher sagen: Was nützt das alles? Mag die moralische, politische und wirtschaftliche Strahlung des Problems noch so bedeutend sein — es scheitern doch alle Überlegungen an der Frage der Finanzierung.

Ist das heute noch ehrlich gesprochen?

Vor aller anderen Widerlegung erlauben wir uns dieser Antwort das Beispiel anderer Regierungen des Westens gegenüberzustellen. Es gibt Staaten, die keine Organisation von Geschädigten kennen, weil die Regierungen ohne Verzug von sich aus die Aufgabe in großzügiger Weise gelöst haben. Es sind Länder, die weit mehr Kriegsschaden erlitten haben als Österreich. Warum hatte man bisher immer noch taube Ohren gegenüber den Finanzierungsvorschlägen seitens der Geschädigten, die jede neue Steuer oder irgendeine Einschränkung der staatlichen Investitionen vermieden wissen wollen?

Als 1953 durch den Verzicht der Besatzungsmächte auf die Kosten die hiefür eingehobene Besatzungssteuer von mehr als 700 Millionen Schilling jährlich frei wurde, haben die Geschädigten auf eine Heranziehung dieser Gelder für die Kriegsgeschädigten hingewiesen. Der Erfolg? Die Steuer blieb unter Weglassung des wahren Titels, aber die Geschädigten, auch die unmittelbar in Betracht kommenden Besatzungsgeschädigten bekamen hievon nicht einen Groschen.

Seit Jahren verweisen die Geschädigten ferner auf die 650 Millionen Schilling jährlich, die 1960 mit Beendigung der Ablöselieferungen an die Sowjetunion freiwerden. Über den Betrag ist in den jetzigen Budgetverhandlungen schon verfügt, ohne auch nur mit einem Wort oder einem Groschen an die Geschädigten zu denken.

Das schwerstwiegende Kuriosum aber ist folgendes: Österreichs Regierung hat im Staatsvertrag auf die Entschädigungsansprüche seiner Bürger an das Deutsche Reich Verzicht geleistet und hiefür als Gegenleistung das viele Milliarden bedeutende Vermögen des sogenannten „Deutschen Eigentums“ bekommen. Auf Grund dieser Werte ist der Staat imstande, die Kriegsgeschädigten zufrieden zu stellen. Wer hat ein größeres Recht auf diese Werte? Was wird die Regierung antworten, wenn sich die Geschädigten schließlich doch gezwungen sehen, zu Gericht zu gehen und die Regierung auf Erfüllung ihrer Pflicht zu klagen?

Schließlich wird auch noch die Wohnhauswiederaufbausteuer in Kürze frei. Und zuletzt die Beendigung der Erdöllieferungen von einer halben Million Tonnen.

Und das immer reicher strömende Erdgas?

Wer vermöchte angesichts solch reicher Möglichkeiten der Finanzierung noch eine Entschuldigung der Nichterfüllung finden?

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