Was man alles Wissen muss

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Auf einen Baum geklettert sein; ein Buch von Deckel zu Deckel "kennen"; wissen, dass nicht alle Wünsche gleich in Erfüllung gehen: Diese drei und 67 weitere Punkte hat die deutsche Pädagogin Donata Elschenbroich 2001 zum erstrebenswerten "Weltwissen der Siebenjährigen" gezählt. Wie sollte ein solcher Kanon des Wissens, Könnens und Erlebthabens für Maturantinnen und Maturanten aussehen? Welche "Kompetenzen" sollten sie mitbringen, um das neue Zauberwort zu verwenden? Und was ist vor diesem Hintergrund von der neuen kompetenzorientierten Reifeprüfung zu halten? DIE FURCHE hat die Übersetzerin Karin Fleischanderl, den Mathematiker Rudolf Taschner und WIFI-Österreich-Chef Michael Landertshammer (alle drei auch Eltern von demnächst oder in absehbarer Zeit maturierenden Kindern) zur Diskussion ins Café Museum geladen -und vorab um ihre zehn wichtigsten "Weltwissen"-Punkte gebeten (siehe unten).

Die Furche: Frau Fleischanderl, Sie haben als Mutter einer 16-jährigen Gymnasiastin im Februar einen "Standard"-Gastkommentar mit dem Titel "Eltern, wehren wir uns!" veröffentlicht, in dem Sie die neue Zentralmatura als "Angriff auf das Denken, den Intellekt und den Geist der Kinder" bezeichnen. Auch eine Online-Petition haben Sie initiiert. Was ärgert Sie so?

Karin Fleischanderl: Es sind vor allem zwei Aspekte. Erstens finde ich, dass die Zentralmatura Deutsch und auch die anderen Sprachen richtig kaputt gemacht hat. Es wird in keinster Weise mehr gefordert, dass ein Schüler oder eine Schülerin einen Gedanken frei in einem Aufsatz äußern kann, sondern es werden Genres wie "Zusammenfassung","Kommentar" oder "Inhaltsangabe" erfunden und den Schülern dann inferiore Zeitungstexte zur Bearbeitung vorgesetzt. Bei der Probe-Zentralmatura in Deutsch war es etwa ein langweiliger Text über einen "Opa-Kurs", den sich ein findiger Lebensberater ausgedacht hat -und für den die Schüler eine Empfehlung schreiben mussten. Das finde ich einfach traurig! Zweitens ärgert mich die so genannte vorwissenschaftliche Arbeit: Welche wissenschaftliche These sollen 17-Jährige aufstellen? Sollen sie schwarze Löcher erforschen? Die Wissenschaftlichkeit besteht hier darin, Bücher auf 30 Seiten zusammenzufassen -mit der Neuerung, dass man halt Fußnoten setzt.

Die Furche: Diplomarbeiten sehen nicht viel anders aus, nur sind sie umfangreicher

Fleischanderl: Mag sein. Aber fürs erste empfinde ich es als Zumutung, einer 17-Jährigen zu sagen: Du musst jetzt wissenschaftlich arbeiten.

rudolf Taschner: Ich glaube auch, dass man die Matura etwas mehr "down to the earth" gestalten sollte. Die vorwissenschaftliche Arbeit gibt es etwa in Frankreich nicht. Die Furche: Ihr Sohn, Herr Taschner, wird schon heuer die Zentralmatura durchlaufen. Gefällt Ihnen die neue Ausrichtung?

Taschner: Ich habe mir die Probe-Schularbeit in Mathematik angeschaut: Ein paar Beispiele waren ganz gut, aber diese langen "Typ-2-Beispiele" (siehe Kasten) halte ich wirklich für einen Krampf. Bei einem war der Text länger als eine Seite, dazu kamen komplizierte Abkürzungen. Insgesamt habe ich natürlich Verständnis, dass der Staat sagt: Ich möchte, dass die Kinder auf Matura-Niveau schreiben, lesen und rechnen können. Doch um diese Basics abzutesten, würde es reichen, nur die Hälfte der schriftlichen Beispiele zentral vorzugeben. Die andere Hälfte sollte man den Schulen überlassen, damit sie ihr Profil zeigen können und die Lehrer die Möglichkeit haben, jene Dinge mit den Schülern zu besprechen, die sie wirklich gut können. Das eine wäre also die Pflicht, das andere die Kür.

Michael Landertshammer: Pflicht und Kür - dem kann ich viel abgewinnen. Ansonsten ist bei der Zentralmatura alles nicht so schlimm, wie es gern dargestellt wird. In vielen Ländern funktioniert sie ohne Probleme. Dass sie bei uns mit so viel Angst und Widerwillen aufgenommen wird, liegt nur an der pannenreichen Vorbereitung. In zwei, drei Jahren wird das kein Thema mehr sein.

Die Furche: Die neue Matura stellt die praktische Anwendbarkeit des Wissens in den Mittelpunkt, doch muss alles Maturawissen nützlich sein? Konrad Paul Liessmann warnt davor, dass durch diese ganze Kompetenzorientierung das Wissen selbst verschwindet: "Uns fehlt mittlerweile jede Vorstellung davon, dass es geistige Inhalte geben könnte, die Wert und Interesse in und für sich selber haben", schreibt er im Buch "Geisterstunde".

Landertshammer: Liessmann ist natürlich ein Polemiker. Dass Bildung heute nur noch dann etwas wert sei, wenn sie Nutzen stiftet, stimmt in dieser Form nicht. Eine solche Ökonomisierung der Bildung, bei der die Auseinandersetzung mit der Welt, mit der Vergangenheit und der Kultur auf der Strecke bleibt, will auch die Wirtschaft nicht. Außerdem geht es bei der "Kompetenzorientierung" auch darum, bei Bildungsabschlüssen zu fragen: Was kann ich wirklich? Es muss Mindeststandards geben, auf die sich künftige Arbeitgeber oder Universitäten verlassen können. Dann muss die WU Wien auch nicht mehr irgendwelche Basis-Rechentests abhalten.

Taschner: Man wird eben bescheiden: An der Technischen Universität, wo ich Mathematik für Elektrotechniker anbiete, setze ich nur noch das Bruchrechnen voraus - aber das wirklich! (lacht) Andererseits verstehe ich schon, dass die Zentralmatura so große Schwierigkeiten bereitet, weil man sich unglaublich viel vorgenommen hat.

Fleischanderl: Das sage ich ja, man will zu viel! Natürlich klingen die Anforderungen toll: Nach der Matura sollte man die Sprachen, die man in der Schule gelernt hat - bei meiner Tochter etwa Englisch und Russisch - beherrschen. Aber das ist lächerlich: Ich habe sechs Jahre am Dolmetschinstitut Italienisch studiert und dann bin ich nach Italien gegangen und habe dort sprechen gelernt. Und jetzt ginge es plötzlich mit drei Stunden Englisch pro Woche?

Landertshammer: Ich glaube, wir unterschätzen die Jungen. Die Kinder können nicht nur mit technischen Dingen umgehen, von denen wir nicht einmal geahnt haben, dass es sie einmal geben wird. Sie können auch viel besser Englisch, weil sie mehr damit konfrontiert sind. Auch meine Kinder haben sehr gut Englisch gelernt. Die waren halt im Sommer viel im Ausland.

Die Furche: Das werden sich vermutlich nicht alle Familien leisten können

Landertshammer: Ja, aber es gibt auch Stipendien.

Taschner: Dass die Englischkenntnisse der Jungen besser sind als zu meiner Zeit, glaube ich auch. Was ich nicht verstehe, ist, dass im Deutschunterricht nichts mehr auswendig gelernt wird -das sage ich als dezidierter Gegner der "Bürgschaft":"Zu Dionys dem Tyrannen, schlich / Damon, den Dolch im Gewande...". Schrecklich, aber Schiller ist immer schwierig, Goethe ist natürlich über jeden Zweifel erhaben. Aber die Jungen kommen ja mit gar keinem Gedicht mehr in Berührung, sie lesen auch null Text. Es gab nur diesen furchtbaren Aufsatz über "Die Schnecke". (Diese Kurzgeschichte des Dichters Manfred Hausmann aus 1947 kam im Vorjahr zu einer Probe-Deutschmatura -ohne Hinweis auf den problematischen, historischen Kontext, Anm.) Fleischanderl: Das war keine Panne, das ist die logische Konsequenz dieses Umgangs mit Literatur, weil Texte nur noch auf ihrer Oberfläche gelesen werden. Dass es in einem Text Metaphern gibt, dass es Rhetorik und Ironie gibt, dieser ganze Resonanzraum wird gar nicht mehr wahrgenommen.

Die Furche: Andere klagen eher, dass das Alltagswissen zu kurz kommt: Die 17-jährige deutsche Schülerin Naina K. hat im Jänner mit einer Kurznachricht auf Twitter eine heftige Debatte ausgelöst:"Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen." Das entspricht der Forderung nach mehr Wirtschaftsbasics auf Ihrer "Weltwissens"-Liste, Herr Landertshammer

Landertshammer: Ja, eine gewisse Mindestkenntnis über wirtschaftliche Zusammenhänge wäre tatsächlich gut. Worauf muss ich etwa aufpassen, wenn ich mich selbständig mache oder Arbeitnehmer bin? Oder: Was ist eine Aktie? Das heißt aber nicht, dass man an einer AHS fünf Stunden Wirtschaft haben muss. Das alles sollte Thema der Schulautonomie bleiben.

Fleischanderl: Die Frage "Wieviel Allgemeinbildung brauchen wir?" richtet sich interessanterweise immer gegen die Geisteswissenschaften. Keiner würde auf die Idee kommen zu sagen: Wir brauchen keine Mathematik mehr, keine Chemie, keine Biologie. Der Tweet dieser Naina heißt ja übersetzt: Das Gedichtinterpretieren -sprich die Literatur -hält mich vom wahren Leben ab. Ich empfinde humanistische Bildung hingegen als Bereicherung. Wenn mein Leben nur aus Steuererklärungen und Mietverträgen bestehen würde, dann würde ich eingehen. Was Naina anführt, sind außerdem lauter alltagspraktische Dinge, die sich jeder mit ein bisschen Grips aneignen kann.

Landertshammer: Natürlich kann man sagen: Organisier dir das selbst! Aber für diejenigen, die das wollen, muss es auch Raum geben, in der Schule eine gewisse Lebenserfahrung zu antizipieren. Ich glaube, dass diese Naina etwas auf den Punkt gebracht hat. Man sollte den Kindern auch ein gewisses Grundverständnis für Wirtschaft und Unternehmertum ermöglichen. Hier in Österreich sind Unternehmer ja noch immer böse Ausbeuter. Dass die Geisteswissenschaften böse wären, hat aber noch nie jemand gesagt.

Fleischanderl: Das nicht, aber es herrscht eine entsprechende Stimmung. Und nun hat es die Zentralmatura eben auch geschafft, die Literatur aus der Schule zu werfen.

Landertshammer: Einspruch! Mein Sohn besucht eine HAK, die er in einem Jahr mit einer Diplomprüfung und einer Matura abschließt, und die haben Literaturlisten und diskutieren auch. Es kommt offenbar auf den Direktor und den Lehrer an. Wobei es in der Schule generell auf die Lehrer ankommt. Die Furche: Apropos: Sie, Herr Taschner, haben als einziger in Ihrer Liste auf die Wichtigkeit einer prägenden (Lehrer-)persönlichkeit hingewiesen

Taschner: Ja, denn Schule und Bildung gelingen nur, wenn wir gute Lehrer haben. Wir brauchen großartige Menschen. Mein Chemielehrer am Theresianum zum Beispiel, Franz Richter, war beim Schriftstellerverband, er war Generalsekretär des PEN-Klub, hat von Malerei viel verstanden und Geige gespielt -ein universell gebildeter Mensch. Daneben gab es auch viele Schulmeister, die uninteressant waren, doch die muss es geben: Wenn es nur große Persönlichkeiten gibt, werden die Schüler ja erschlagen.

Fleischanderl: Also meine Deutschprofessorin, die mich geprägt hat, wäre im jetzigen System verloren. Kinder für Literatur zu begeistern, dafür bleibt heute gar keine Zeit mehr, da muss man sich schon nach der Schule im Kaffeehaus treffen.

Die Furche: Frau Fleischanderl, Ihre Zehn-Punkte-Liste war am konkretesten -und auch am überraschendsten. Maturanten sollten etwa nur "mindestens zwei Werke der klassischen und zeitgenössischen österreichischen Literatur gelesen haben". Warum diese Bescheidenheit? Und warum der Fokus auf Naturwissenschaften -inklusive Wissen, was eine "Redox-Reaktion" ist?

Landertshammer: Also bei der "Redox-Reaktion" bin ich mir auch nicht sicher (lacht).

Fleischanderl: Was die österreichische Literatur betrifft, so bin ich einfach realistisch: Handke, Bernhard, Jelinek oder Bachmann kennt niemand mehr in der Oberstufe. Bei den anderen Punkten denke ich an eine Aussage von Konrad Paul Liessmann, wonach Schule eben auch den Sinn hat, das Wissen, das sich die Menschheit in tausenden Jahren in allen Sparten erarbeitet hat, in sehr komprimierter Form weiterzugeben. Und da gehört das alles dazu -wie auch Musik und Psychoanalyse.

Die Furche: Und warum sollten Maturanten die TV-Serie "Breaking Bad" gesehen haben, in der ein High-School-Lehrer beginnt, die Designerdroge Chrystal Meth herzustellen, um seine Krebstherapie zu finanzieren - und am Ende als Drogenboss stirbt?

Taschner: Ich gestehe, ich kenne diese Serie nicht. Und ich hätte eigentlich auch Angst davor, mitanzusehen, wie ein Sterbenskranker zum Verbrecher wird.

Fleischanderl: Dieser letzte Punkt auf der Liste ist natürlich ein Kontrapunkt, aber ich glaube, dass man in der Pop-und Massenkultur auch viel Gutes findet. Man muss nicht immer nur Shakespeare, Goethe und Schiller lesen. Das Ironische an "Breaking Bad" ist ja, dass gezeigt wird, was gebildete Menschen wie Walter White unter gewissen Umständen mit ihrem ganzen Wissen erreichen können -nämlich am Ende nichts.

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