Zerstört unser Schulsystem Begabungen?

Werbung
Werbung
Werbung

"98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt,“ heißt es im neuen Film "Alphabet“. "Nach der Schule sind es nur noch zwei Prozent“. Tatsächlich? Die FURCHE lud zur Debatte. Das Gespräch moderierte Doris Helmberger

In seinem neuen Film "Alphabet - Angst oder Liebe“ zeichnet Regisseur Erwin Wagenhofer das Bild eines von Angst, Wettbewerb und PISA-Wahn geprägten Schulsystems, das die im Menschen grundgelegte Kreativität verkümmern lässt, ja geradezu zerstört (vgl. unten). Als Gegenentwurf porträtiert er den 42-jährigen André Stern, der ohne jede Schulbildung im Pariser "Malort“ seines Vaters Arno Stern aufgewachsen ist. "98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch zwei Prozent“, lautet die These des Films. Stimmt das wirklich? Was heißt überhaupt "Begabung“? Und wie müsste eine Schule gestaltet sein, in der sich alle Kinder bestmöglich entfalten können? Darüber haben die Wiener Bildungswissenschafterin und Organisationsentwicklerin Eva Novotny und der Grazer Psychologe sowie Begabungsforscher Aljoscha Neubauer in der Bibliothek der "Graz International Bilingual School“ (GIBS) heftig diskutiert.

Die Furche: Sie beide haben sich den Film "Alphabet“ vorab angesehen. Wie hat er Ihnen gefallen?

Eva Novotny: Er ist grundsätzlich sympathisch, allerdings auch naiv. Vor allem aber analysiert er nicht politisch: Wenn man Kritik am herrschenden Schulsystem übt, muss man die konkreten Fehler bestimmter Akteure benennen, statt nur von "Wir“ zu reden.

Aljoscha Neubauer: Also ich halte den Film für sehr politisch - und zugleich für antiwissenschaftlich und antiaufklärerisch. Die Botschaft, dass Schule und Bildung schlecht seien und man die Kinder am besten zu Hause erziehen sollte, weil sich alles von selbst entwickelt, ist äußerst bedenklich.

Novotny: Wobei sich Erwin Wagenhofer sicher nicht die Aufgabe gestellt hat, wissenschaftlich zu sein. Er will Stimmung machen!

Neubauer: Richtig, doch dazu verzerrt er die Dinge bewusst, was man anhand der zentralen Aussage des Films schön zeigen kann.

Die Furche: Sie meinen jene Studie, wonach 98 Prozent der Kleinkinder die Fähigkeit zu "unangepasstem Denken“ hätten, aber nur zwei Prozent der Erwachsenen …

Neubauer: Ja, niemand in der Community kennt die Autoren dieser Studie, die schon 1992 publiziert wurde. Außerdem ist sie insofern problematisch, weil behauptet wird, man könnte mit denselben Tests die Fähigkeiten von Drei- bis Fünfjährigen und 20- bis 25-Jährigen gleichermaßen messen. Abgesehen davon ist es ein drastischer Fehler, "divergent thinking“, wie es im Original heißt, mit "unangepasstes Denken“ zu übersetzen.

Die Furche: Die zentrale Botschaft vom hohen kindlichen Potenzial müsste bei Ihnen, Frau Novotny, auf Wohlwollen stoßen. Sie sagen ja: "Alle können alles lernen“.

Novotny: Ich sage: "Alle können alles lernen, alle müssen aber auch alles lernen!“ Bei der Rede von "98 Prozent hochbegabten Kindern“ wird aber so getan, als ob schon alle alles könnten! Natürlich haben Kinder weniger Muster im Kopf und sind deswegen chaotischer im Denken - das kann man auch als Kreativität bezeichnen. Es ist aber fraglich, ob es wünschenswert wäre, sich chaotisches Denken in diesem Ausmaß zu erhalten. Zu André Stern ist zu sagen, dass er unter privilegierten Voraussetzungen in einem Schloss aufgewachsen ist. Da kann es schon sein, dass ein Kind wie von selbst erblüht. Aber nicht jeder hat solche Eltern.

Neubauer: Kinder aus privilegierten Verhältnissen werden sich immer leichter tun, weil sie von vornherein viele Anreize aus ihrer Umwelt erhalten. Wenn wir das auf sozial Benachteiligte übertragen würden, käme es zu einer noch extremeren Segregierung der Gesellschaft in Arm und Reich, in Gebildete und Ungebildete.

Die Furche: Kommen wir zur Frage, was "Begabung“ überhaupt bedeutet. Frau Novotny, Sie sagen, Begabung sei ein "Mythos“ …

Novotny: "Begabung“ ist ein nebuloses Alltagskonzept, für das ich in 45 Jahren Forschungsarbeit keine wissenschaftliche Fundierung gefunden habe. Ich bin selbst als hochbegabtes Kind gefeiert worden, deshalb habe ich mich mit diesem Konzept beschäftigt. Aber: Wer gibt, wem wird gegeben?

Neubauer: "Begabung“ ist eines der bestuntersuchten Konstrukte in der Psychologie. Viele hundert Zwillings- und Adoptionsstudien haben uns gezeigt, dass es genetische Einflüsse gibt, welche kognitiven oder sonstigen Fähigkeiten jemand hat. Natürlich läuft das nicht völlig deterministisch ab, wir wissen, dass das Gehirn sehr plastisch ist, aber trotzdem kann nicht jeder alles gleich gut lernen. Das kann man dank psychologischer Tests gut erkennen.

Novotny: Aber ich kann doch keine Begabungen testen! Ich kann nur konkrete Fähigkeiten beobachten.

Neubauer: Also wenn Sie die Semantik des Begriffs "Begabung“ stört, können wir auch von "kognitiven Fähigkeiten“ sprechen.

Novotny: Damit habe ich kein Problem! Sehrwohl aber mit der von Ihnen angesprochene Zwillingsforschung: Erstens wählt man für Adoptionen immer ähnliche Milieus. Ein plausibler Schluss ließe sich nur ziehen, wenn man die Geschwister jeweils in mehr und weniger förderlichen Umwelten aufwachsen ließe. Das wäre aber unethisch. Zweitens begegnet die Umwelt physiognomisch identischen Menschen - Zwillingen - automatisch ähnlicher.

Neubauer: All diese Faktoren kann man herausrechnen. Über die Prozentsätze sollte man aber tatsächlich nicht viel reden: Wenn man sagt, 70 oder 80 Prozent sind erblich, glauben die meisten, dass ein Merkmal nicht mehr veränderbar sei, was nicht zutrifft. Andererseits macht es keinen Sinn, jemanden zum Stargeiger machen zu wollen, der unmusikalisch ist. In Kunst oder Sport ist jedem klar, dass es unterschiedliche Anlagen gibt. Aber bei kognitiven Fähigkeiten tut man sich viel schwerer.

Novotny: Das liegt daran, dass diese Fähigkeiten viel komplexer sind. Die Komplexität unserer Gene ist viel zu gering, um die Komplexität unserer neuronalen Netze erklären zu können, zumal sich die ja erst im Laufe des Lebens bilden. Dazu kommt die Epigenetik: Ob ein Gen zum Ausdruck kommt, hängt von vielen Wechselwirkungen mit Faktoren in- und außerhalb des Organismus ab. Im Grunde ist die Spekulation, was angeboren und was erworben ist, ein Streit um des Kaisers Bart: Denn ein genetischer Einfluss von etwa 50 Prozent würde für ein durchschnittlich "begabtes“ Kind bedeuten, dass es bei schlechter Förderung nur einen IQ von 80, bei optimaler Förderung aber einen von 120 erzielen würde. Innerhalb dieser Spanne spielen sich praktisch alle Varianten eines möglichen Lebens ab! Das Problem sind die ideologischen Implikationen.

Die Furche: Inwiefern?

Novotny: Die Ideologie besteht darin zu sagen: Hier habe ich die High und dort die Low Potentials - um die einen kümmere ich mich besonders, um die anderen weniger. Doch das lässt sich wissenschaftlich nicht legitimieren - und schon gar nicht ethisch. Aber wahrscheinlich habe ich andere gesellschaftliche Zielvorstellungen als Sie.

Neubauer: Das weiß ich nicht. Es geht auch nicht darum, Menschen auszugrenzen, sondern die Schule zu sensibilisieren, dass es unterschiedliche Talente gibt - was wissenschaftlich bewiesen ist - und dass es sinnvoller ist, sich auf die Stärken dieser Person zu konzentrieren, statt die abstrusen Konzepte mancher Neurobiologen zu verfolgen, die behaupten, dass Lernen nur Spaß machen muss …

Novotny: Das nicht, aber Intelligenz ist nicht alles. Wichtig ist auch Anstrengungsbereitschaft. Man lernt erst an der Grenze zur Überforderung. Ob Menschen an diese Grenzen gehen, hängt mit ihrer Begeisterung zusammen, mit Vorbildern, eigenem Zutrauen und Misserfolgsängstlichkeit.

Neubauer: Diese Katalysatoren bei der Umsetzung von Potenzialen in tatsächliche Leistungen sind natürlich wichtig, vor allem die Selbstdisziplin. Manchmal muss man einfach hart arbeiten.

Die Furche: Etwa 10.000 Stunden üben, um laut Anders Ericsson wahre Meisterschaft zu erlangen …

Neubauer: Ja. Und trotzdem bleibt ein unerklärter Rest. Letztlich geht es aber um die Frage, wie Schule aussehen muss, damit die Potenziale jedes Einzelnen besser zum Vorschein kommen.

Die Furche: Heuer im März haben Sie in der "Zeit“ vorgeschlagen, vor allem an der Schnittstelle zwischen Volksschule und Sekundarstufe eins mehr Intelligenztests zu implementieren, um Fähigkeiten zu orten und die Begabten von den "Bluffern“ zu unterscheiden …

Neubauer: Natürlich wird man noch viele andere Informationen heranziehen müssen als IQ-Tests. In der Zeit war das überspitzt formuliert. Worum es mir geht, ist, überhaupt einmal für das Problem zu sensibilisieren, dass wir verborgene Talente haben, die wir mehr fördern müssen - gerade an der Schwelle von der Volks- in die Mittelschule, wo wir viele begabte Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien verlieren.

Die Furche: Nach der Matura wollen sie nur jene rund 20 Prozent eines Jahrgangs an die Uni lassen, die einen IQ über 115 aufweisen …

Neubauer: In Deutschland ist gerade eine intensive Diskussion darüber im Gange, ob man wirklich so viele Akademiker braucht, die dann erst keine adäquaten Anstellungen finden, wenn andererseits Lehrlingsmangel herrscht. Aber das ist eine eigene Debatte.

Novotny: Wer kann sich das Recht nehmen zu bestimmen, wer wie weit gebildet werden soll und bei wem es schon reicht? Ich kann doch auf Grund der momentanen Leistung nicht wissen, ob ein Mensch nicht nächstes Jahr jemanden trifft, der in ihm die Initialzündung auslöst.

Neubauer: Natürlich soll man niemanden auf Grund einer Testung festlegen. Das soll nur eine Empfehlung sein. Doch das Credo "Mach das, wofür du dich interessierst!“ ist ein Problem, schließlich wissen wir, dass Interesse und Begabung oft kaum korrelieren. Jugendliche, die Automechaniker werden wollen, obwohl sie ein schlechtes räumliches Vorstellungsvermögen haben, sollte man auf diese Diskrepanz aufmerksam machen. Hier geht es um mehr Arbeits- und Lebenszufriedenheit.

Novotny: Die Frage ist: Was trauen sich die Jungen selbst zu? Wenn in Migrantenfamilien die Väter beruflich scheitern, brechen die Buben oft die HTL ab, weil sie sich nicht trauen, dem Vater über den Kopf zu wachsen. Das hat mit Intelligenz überhaupt nichts zu tun. Bildung ist für mich auch nicht nur Berufsbildung. Man soll auch dilettieren können! Ich will nicht die Menschen auf fixe Bahnen stellen und sagen: Das ist dein Weg, Schuster bleib bei deinem Leisten! Ökonomie lässt sich nicht planen, eine Biographie schon gar nicht. Deswegen ist für mich eine Matura für alle auch kein Luxus - zumindest wenn etwas Gescheites gemacht wird in der Schule!

Die Furche: Apropos: Wie soll eine begabungsfördernde Schule konkret aussehen?

Neubauer: Ich bin dafür, dass man die Kindergartenpflicht auf zwei Jahre ausdehnt, weil das zu einer Homogenisierung der Startvoraussetzungen beim Eintritt in die Volksschule führt. Außerdem ist die Weichenstellung Richtung AHS oder Hauptschule mit neuneinhalb Jahren problematisch, weil sie eher auf den sozialen Background abzielt und nicht auf die Begabung. Wobei ich mir nicht sicher bin, wie stark bei einer Gesamtschule das Privatschulwesen aufblühen würde - und ob sich eine solche Schule nicht mit der Heterogenität von Begabungen schwertäte. Es müsste also auch Differenzierung geben - etwa in Form von Leistungsgruppen, die man aber nicht so starr gestalten dürfte wie früher in den Hauptschulen. Zudem bräuchte es natürlich Förder- und Zusatzangebote, um flexibel reagieren zu können, wenn sich bei einem Kind plötzlich ein besonderes Potenzial auftut.

Novotny: Es reicht nicht, nach Talenten zu suchen: Ich muss manchen Kindern erst die Möglichkeit geben, Probleme zu finden, an denen sie sich abarbeiten können, damit sich Talente überhaupt entwickeln! Deshalb wünsche ich mir eine umfangreiche Allgemeinbildung und eine gemeinsame Schule mit einer flexiblen inneren Differenzierung. Schon lange vor PISA haben Studien gezeigt, dass die selektivsten Schulsysteme die schlechtesten Ergebnisse liefern. Wir sollten uns also hüten, "die Spreu vom Weizen“ zu trennen, damit die einen Hilfsarbeiterjobs und die anderen "Verantwortung“ übernehmen. Intelligenz und Verantwortung sind zudem unterschiedliche Dinge. Denkfähigkeit ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Grundlage für Moral!

Neubauer: Das stimmt, aber Studien zeigen halt schon, dass nur Exzellenz zu Höchstleistungen führt. Alle Staaten, die sich auf ihre besonderen Talente konzentrieren, sind wirtschaftlich erfolgreicher. Die Förderung der besonders Begabten bringt der Gesellschaft also auch einen wirtschaftlichen Mehrwert - selbst wenn Erwin Wagenhofer diese These hassen wird.

DIE DISKUTANTEN

Eva Novotny

Die promovierte Pädagogin, Psychologin und Philosophin sowie Psychotherapeutin forscht und arbeitet zum Themenschwerpunkt Lernen und Problemlösen in sozialen Systemen ( www.novotny-herrnstadt.at). 2009 hat sie "Ermächtigen. Ein Bildungsbuch“ publiziert (Peter Lang).

Aljoscha Neubauer beschäftigt sich als Professor für Differentielle Psychologie an der Karl-Franzens-Universität Graz v.a. mit menschlicher Intelligenz und Begabungsförderung (vgl. www.uni-graz.at/dips). Jüngst erschienen: "Intelligenz - Große Unterschiede und ihre Folgen“ (mit Elsbeth Stern, DVA).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung