Hand die ein Blatt Papier beschreibt - © Louis Bauer / Pexels

Liessmann über Bildung: "Vom Wiegen wird die Sau nicht fett"

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Das neue Schuljahr bringt eine neue OECD-Studie, neue Bildungsstandardtests, einen neuen PISA-Durchgang und die neue Zentralmatura. Wie sinnvoll sind solche Vermessungen? Der Philosoph Konrad Paul Liessmann und Kurt Nekula, für Qualitätssicherung zuständiger Sektionschef im Bildungsministerium, haben im Wiener Café "phil" darüber gestritten.

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Das neue Schuljahr bringt eine neue OECD-Studie, neue Bildungsstandardtests, einen neuen PISA-Durchgang und die neue Zentralmatura. Wie sinnvoll sind solche Vermessungen? Der Philosoph Konrad Paul Liessmann und Kurt Nekula, für Qualitätssicherung zuständiger Sektionschef im Bildungsministerium, haben im Wiener Café "phil" darüber gestritten.

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DIE FURCHE: Herr Professor Liessmann, in Ihrem neuen Buch "Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung" arbeiten Sie sich u.a. an den zunehmenden Standardtests, Rankings und Evaluationen im Bildungswesen ab. Was ist an Qualitätssicherung so gespenstisch?
Konrad Paul Liessmann: Schon allein der Begriff ist gespenstisch, weil immer dort, wo von Qualitätssicherung die Rede ist, Qualität verschwindet. Alle unsere derzeitigen Qualitätssicherungsinstrumente sind ja rein quantifizierend, man müsste also ehrlicherweise von Quantitätssicherung sprechen. Wie viele Studenten, wie viele Maturanten schaffen diese oder jene Qualifikationsstufe? Ständig geht es um Zahlen. Bei Qualitätssicherung hingegen müsste man fragen: Was wird inhaltlich tatsächlich gelernt und gelehrt? Genau darüber höre ich aber nichts. Und wenn dann auf Grund eines Skandals wie bei der letzten Zentralmatura in Deutsch diese Frage virulent wird, sehe ich nur Rückzugsstrategien. Gehört es wirklich zur Qualität des Deutschunterrichts, dass ein österreichischer Maturant keine Ahnung von österreichischer Literatur haben, aber einen drittklassigen Nazidichtertext interpretieren können muss? Das wäre für mich die wirkliche Qualitätsfrage.

Kurt Nekula: Ich kann Sie nur einladen, sich einmal genau anzuschauen, was wir zur Qualitätsentwicklung beitragen. Vieles von dem, was Sie jetzt gefordert haben, ist ja Wasser auf unsere Mühlen. Es geht um die Entwicklung von der bloßen Wissensvermittlung zu einer nachhaltigen Kompetenzentwicklung. Dies und auch die Bildungsstandards sollen dazu führen, dass das Wissen anwendbar wird, dass man komplexe Probleme und Fragestellungen lösen kann. Insgesamt heißt Qualität im Bildungsbereich, dass man ein ausgewogenes Verhältnis schafft zwischen der notwendigen Individualisierung einerseits, weil das Kind und seine Persönlichkeit im Zentrum stehen müssen - und dem Blick auf seine Kompetenzlage sowie das gesamte österreichische Bildungsniveau andererseits. Liessmann: Aber das ist doch die Quadratur des Kreises! Individualisierung und Bildungsstandards halte ich für einen Widerspruch. Zweitens habe ich schon beim Begriff "Bildungsstandards" meine Schwierigkeiten. Bildung als Möglichkeit des Menschen, sich in der Welt zu orientieren und sich selber zu verstehen, lässt sich nicht standardisieren. Und zur Anwendbarkeit: Hätten wir schon immer die Haltung gehabt, dass Wissen nur dann einen Wert hat, wenn man es anwenden kann, dann säßen wir wahrscheinlich noch in Höhlen. Denn Fortschritt und Wissenschaft sind auf Menschen zurückzuführen, die neugierig waren und denen es nicht in erster Linie darum gegangen war, irgendetwas anzuwenden. Die Griechen, denen wir so viel verdanken, weigerten sich prinzipiell, ihre Naturerkenntnisse auch anzuwenden. Wenn überhaupt kein Raum mehr bleibt, dass jemand sich nur aus Freude an der Sache mit etwas beschäftigt, dann haben wir ein Problem. Kein junger Mensch, der sich durch welche Bücher, Lehrer oder Fernsehdokumentationen auch immer plötzlich für altägyptische Geschichte interessiert, sollte daran denken müssen, wie er das einmal anwenden kann. Denn ohne solche Menschen werden wir bald keine Geschichtswissenschaften mehr haben.

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DIE FURCHE: Sind solche Vergleiche nicht hilfreich, Herr Liessmann?
Liessmann: Na ja; einerseits kann man individuelle Bildungsprozesse nicht vergleichen; und andererseits würde ich bei so groß angelegten und ziemlich teuren Studien ganz pragmatisch fragen, ob sich der ganze Aufwand lohnt oder nicht eher Erkenntnisse herauskommen, die den meisten Beteiligten ohnehin durch ihre Erfahrung bekannt sind. Man tut ja so, als hätte man vor 20 oder 30 Jahren nicht gewusst, wo es in Wien gute und weniger gute Schulen gibt!

Nekula: Die Frage ist, was eine gute Schule ist! Für die einen ist eine gute Schule stark schülerzentriert, für die anderen eine mit hoher Repitentenquote, weil da angeblich das Niveau so hoch ist. Wir sind jetzt auf dem Weg von der Anekdotengläubigkeit zur datenbasierten Qualitätssicherung.

Liessmann: Die Frage, was eine gute Schule ist, soll man durchaus diskutieren. Aber ich glaube nicht, dass man durch solche Vergleichsuntersuchungen, die ja gerade diese Frage nicht stellen, sondern rein quantifizierbare Daten erheben, nennenswerte, zusätzliche Informationen erhält. Ich bin auch nicht gegen jede Form des Vergleichs, auch nicht für die Abschaffung von Ziffernnoten, die ja auch eine quantifizierende Leistungsbeurteilung darstellen, aber es kommt auf das Maß an: Wenn ich von Lehrerseite höre, dass sie schon mehr Zeit aufwenden für Vergleiche, Tests oder Fragebögen als für den Unterricht, dann ist das ein Problem. Gerade im Lehrberuf und an den Universitäten herrscht großer Frust darüber, dass ständig irgendwelche Daten erhoben werden, aber dort, wo man wirklich etwas für die Qualität bräuchte, alles blockiert wird. Dazu gibt es übrigens ein schönes Sprichwort: Vom dauernden Wiegen wird die Sau nicht fett.

Nekula: Ich teile die Meinung, dass Evaluierungen den Betroffenen dienen müssen und nicht umgekehrt. Da wird man sich kritisch anschauen müssen, ob nicht das eine oder andere überarbeitet werden müsste.

Die Furche: Kommen wir zu PISA, für viele das Sinnbild von "Vermessenheit" schlechthin. Sie, Herr Liessmann, haben im Mai einen offenen Brief internationaler Forscher um Heinz-Dieter Meyer von der State University of New York mitunterzeichnet, der vor "irreparablem Schaden" durch PISA warnt

DIE FURCHE: Herr Nekula, soll es an den Schulen tatsächlich nur noch um anwendungsorientiertes Wissen gehen?
Liessmann: Der Kompetenzbegriff legt das zumindest nahe. Wer diesen Begriff ernst nimmt, darf nichts mehr unterrichten, das der Schüler nicht anwenden kann

Nekula: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem, was Allgemeinbildung vermitteln soll, und dem, was etwa an den Universitäten gelehrt und geforscht wird. In der Allgemeinbildung ist es wichtig, die Schülerinnen und Schüler für verschiedenste Entwicklungsmöglichkeiten fit zu machen. Bei den lebenden Fremdsprachen etwa hat man sich deshalb auf europäischer Ebene auf einen gemeinsamen Kompetenzrahmen geeinigt: Denn was nützt es, wenn man die Ausspracheregeln von Italienisch weiß, aber den Sinn der Worte nicht versteht? Wir wissen außerdem, dass das Faktenwissen eine unglaubliche Vergessenskurve hat und es viel wichtiger ist, vernetzt zu denken und zu wissen, wo man sich Fakten abholen kann. Und zu den Bildungsstandards: Oft wird kritisiert, dass die Schule doch nicht nur aus Deutsch, Mathematik und Englisch besteht. Das stimmt natürlich! Doch selbst bei den Bildungsstandardüberprüfungen ist wesentlich mehr im Blick: Teilkompetenzen, Standortfaktoren, auch die Freude am Fach oder die Einstellung zur Schule. Es gibt faire Vergleiche mit ähnlich strukturierten Schulen, es wird gezeigt, wie Mädchen und Buben abschneiden, Kinder mit Deutsch als Erst-oder Zweitsprache, aus bildungsnahen oder bildungsfernen Familien. Hier zeigt sich ein Gesamtbild.

Liessmann: PISA ist tatsächlich ein gefährlicher Irrweg. Erstens kann jeder Statistiker bestätigen, dass PISA rein handwerklich auf tönernen Füßen steht. Gerade die viel gelobte Vergleichbarkeit ist nicht gegeben, schon allein, was die Zahl der Probanden betrifft. Deutschland hat etwa 80 Millionen Einwohner und 5000 Schüler machen den PISA-Test; die Schweiz hat acht Millionen Einwohner und 20.000 Schüler machen den PISA-Test. Jedes Meinungsforschungsinstitut würde hier Vergleiche ablehnen, aber bei PISA geht das problemlos. Zweitens testet PISA nur mathematische, sprachliche und naturwissenschaftliche "Kompetenzen", wie es neumodisch heißt, und auf Basis dieser Maßzahlen werden bildungspolitische Weichenstellungen vorgenommen. Die ganzen musischen und geisteswissenschaftlichen Fächer kommen nicht vor, auch Fremdsprachen nicht. Und zum Thema Faktenwissen, von dem Sie quasi gesagt haben "vergessen wir es!": Ich wäre froh, wenn die Menschen angesichts der Entwicklungen unserer Zeit auch ein bisschen Faktenwissen in sich hätten und nicht jedes Mal googlen müssten, ohne zu wissen, nach welchen Algorithmen Google die Ergebnisse auswirft.

Nekula: Ich bin nicht gegen Faktenwissen: Ich bin nur dagegen, dass Kinder wie Papageien auswendig gelerntes Wissen bei schriftlichen Tests reproduzieren müssen.

Liessmann: Aber das macht doch seit Jahrzehnten niemand mehr!

Kurt Nekula

Der ehemalige Mittelschullehrer für Musik und Mathematik sowie Pflichtschul-Elternvertreter ist seit 2007 im Bildungsministerium tätig. Seit 2010 leitet er die Sektion I für Allgemein bildendes Schulwesen, Qualitätsentwicklung und -sicherung, BIFIE sowie Päd. Hochschulen.

Der ehemalige Mittelschullehrer für Musik und Mathematik sowie Pflichtschul-Elternvertreter ist seit 2007 im Bildungsministerium tätig. Seit 2010 leitet er die Sektion I für Allgemein bildendes Schulwesen, Qualitätsentwicklung und -sicherung, BIFIE sowie Päd. Hochschulen.

Konrad Paul Liessmann

Der Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien ist einer der prominentesten Kritiker des Bildungsbetriebs. 2006 ist bei Zsolnay seine "Theorie der Unbildung" erschienen, Ende September folgt mit "Geisterstunde" die Praxis.

Der Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien ist einer der prominentesten Kritiker des Bildungsbetriebs. 2006 ist bei Zsolnay seine "Theorie der Unbildung" erschienen, Ende September folgt mit "Geisterstunde" die Praxis.

Die Furche: Herr Nekula, warum brauchen wir PISA?
Nekula: PISA zeigt einfach einen Teil der Schulwirklichkeit und ist ein Input, der die Qualitätsentwicklung am Schulstandort unterstützen kann. Wobei ich bei PISA auch ein Problem sehe, aber weniger in der Datenerhebung als in der oft abenteuerlichen Interpretation der Ergebnisse -und zum Teil auch im Theater, das drumherum inszeniert wird. Das passierte manchmal auch bei den Bildungsstandards -bei denen wir übrigens bewusst auf Rankings verzichtet haben.

Liessmann: Da gebe ich Ihnen völlig recht: Weil es bei PISA diese Rankings gab, weil es medial gleich geheißen hat "Österreich wieder nur im Mittelfeld!", deswegen ist die Bildungspolitik aufgescheucht gewesen wie eine Hühnerschar. Und bei jedem weiteren PISA-Vergleich fiebern wir der Nationen-Rangliste entgegen, die dann der Maßstab für tatsächliche Neuorientierungen in der Bildungspolitik ist -und nicht die detaillierten Analysen, die den Schulen hilfreiche Hinweise geben können. Da würde ich mir von der Bildungspolitik mehr Souveränität erwarten. Ich hätte es auch für einen souveränen Zug gehalten, wenn die Bildungsministerin an ihrer ursprünglichen Idee, nämlich einmal bei PISA zu pausieren, festgehalten hätte. Es kippt sich kein Land aus dem Kreis der zivilisierten Gesellschaften, wenn es einmal bei PISA nicht mitmacht.

Die Furche: Eine letzte Frage zum umstrittenen Bundesbildungsinstitut BIFIE. Sie waren nie ein Freund dieses Instituts, Herr Liessmann. Warum nicht?
Liessmann: Weil es in einer Zwittersituation ist, die nicht gut gehen kann. Die Erstellung von Lehrplänen oder von Fragen für eine Zentralmatura sind letztlich hoheitliche Aufgaben, die man nicht auslagern darf. Und wenn ich wirklich empirische Bildungsforschung betreiben will, dann muss das an einer unabhängigen Institution wie etwa einer Universität geschehen. Das BIFIE ist zwar ausgelagert, aber gleichzeitig wird es kontrolliert und besetzt vom Ministerium - eine der typischen, unsauberen österreichischen Lösungen.

Nekula: Einspruch: Im wissenschaftlichen Beirat des BIFIE sitzen nationale und internationale Wissenschafter mit hoher Reputation.

Liessmann: Aber Beiräte sind doch Feigenblätter!

Die Furche: Wie soll es aus Ihrer Sicht am BIFIE weitergehen, Herr Nekula?
Nekula: Institutionen wie das BIFIE gibt es in einigen OECD-Ländern. Wichtig ist, dass diese Institution einen klar definierten Platz hat, und daran wird gerade gearbeitet. Aber eines ist klar: In unserem stark föderalen, österreichischen Schulwesen ist Systemsteuerung eine zentrale Aufgabe. Es ist wichtig, dass es eine Feedbackkultur auf allen Ebenen gibt. Wir haben etwa jetzt auf gesetzlicher Basis die Möglichkeit, von der Schule beginnend, Entwicklungspläne zu erarbeiten, die mit der Schulaufsicht abgestimmt werden. Durch diese Entwicklungspläne, Bilanz-und Zielvereinbarungsgespräche kommen zwei ganz wesentliche Dinge ins System: Verantwortung und Verbindlichkeit. Erst das bringt Qualität.

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