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Chinas geistige Mauer fällt

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Die Welt horcht auf: China will das lateinische Alphabet und die Lautschrift einführen.

Eine Mauer bröckelt, hinter der sich bisher selbst erfahrene Weltreisende hilflos gefühlt haben. Man kann in China nicht wie anderwärts Aufschriften in den Straßen lesen oder im Fluß der Fremdsprache international bekannte Wörter aufspüren, man kann nicht einmal „psychologisch“ übersetzen, nämlich aus Tempo, Tonfall oder Lautstärke der Rede auf seelische Emotionen des Sprechenden wie Freude, Aerger oder Kränkung schließen. Der Chinese vermag in seiner Sprache nicht „seinem Herzen Luft zu machen“. Es ist unmöglich, im Chinesischen zu schimpfen oder zu keifen, weil der Tonfall oder, besser gesagt, die Tonart des einzelnen Wortes genau festgelegt ist. Nicht unähnlich unseren alten Barden, die ihre Epen mit Singen und Sagen vortrugen, muß auch der Chinese seine Gedanken in einer leichten Melodik, halb gesungen und halb gesprochen, vortragen, wenn er verstanden werden will.

Als besondere Eigentümlichkeit des Chinesischen muß der scheinbare Reichtum an Homonymen gelten: die Silbe „chi“ soll zum Beispiel 120 Bedeutungen haben. Wahrscheinlich hat sich die Sprache im Laufe von Jahrtausen-

den so zum Einsilbigen und Uniformen abgeschliffen. Sie kennt heute kein Geschlecht, keinen Fall, nicht Präfix und Suffix, nicht grammatische Regeln noch Ausnahmen davon. Wo eine Determinierung notwendig erscheint, erreicht man sie durch die Stellung des Wortes im Satzgefüge, durch Zuziehung anderer Wörter und besonders durch die unterschiedliche Ton-gebung. Obendrein ist diese Tonalität der Vokabeln sehr verschieden. In Tschunking, der Fluchthauptstadt im zweiten Weltkrieg, zum Beispiel zählt man 377 Silben, deren Bedeutung sich durch vier verschiedene Register wandelt, während in Amoy, gegenüber der jetzt oft genannten Insel Formosa, 846 Silben in sieben verschiedenen Registern gebraucht werden. In Kanton hat sich der Dialekt gar bis auf eine neunfache Tonalität verstiegen. Der Europäer kann einen chinesischen Dialekt schon darum so schwer erlernen, weil die Tonalität des Wortes ein musikalisch besonders geschultes Ohr voraussetzt. Er muß nicht nur die Vokabel lernen, sondern sie auch im gehörigen Tonfall und der entsprechenden Tonhöhe wiedergeben. So verschlägt es dem Chinesen oft die Rede, wenn ein Fremder ihm seine neuen Sprachkenntnisse vorführt; denn die gleiche Vokabel

besagt im falschen Tcnwert etwas ganz anderes, wenn nicht gar das Gegenteil. Uebrigens glaube ich schon aus dieser Tatsache, daß sich Hunderte von Millionen mit Hilfe einer gewissen Melodik verständigen, schließen zu dürfen, daß Unmusikalität nicht auf Veranlagung, sondern nur auf mangelnde Erziehung zurückgehen kann.

Nun gibt es zudem keine: chinesische Sprache an sich, sondern nur verschiedene Glieder der indochinesischen Sprachengruppe, und der Bewohner des Südens kann mit dem des Nordens ebensowenig reden wie der Italiener mit dem Schweden. Und was für die „Söhne des Han“, wie die Chinesen sich selbst nennen, gilt, das gilt in verstärktem Maße für die Verständigung mit den nationalen Minderheiten, etwa den Tibetanern, den Thais oder den Miaos, ganz abgesehen natürlich von denen, die auf einem anderen Sprachenstamm fußen.

• Man kann also nicht „Chinesisch“, sondern bestenfalls einige der zahlreichen chinesischen Dialekte lernen. Wie bei uns das Schriftdeutsche die verschiedenen Mundarten vereinigt hat, bildet im Chinesischen die Schrift den Zement, mit dem das Wunderwerk der einheitlichen Kultur gefügt wurde. Sie hat sich aus einer Bilderschrift entwickelt, wobei neue Begriffe umrissen wurden, indem man verschiedene Zeichen zueinander in Beziehung setzte. Wie sehr dabei Lebenserfahrung und Lebensweisheit ihren Niederschlag fanden, zeigt zum Beispiel das Schriftzeichen ein Haus mit einer Frau für das Wort Frieden und ein Haus mit zwei Frauen für das Wort Streit.

Im Laufe der Zeit schliffen sich die Zeichen ab und wurden stilisiert, doch blieb jedem Be-

griff sein besonderes Zeichen zugeordnet, so daß die große Enzyklopädie, zu der Kaiser Kang Hai vor dreihundert Jahren alle Schriffzeichen zusammentragen ließ, 45.000 davon umfaßteI Es ist mir nicht bekannt, ob jemand in China diese alle beherrscht. In den Kästen großer Setzereien liegen 35.000 solcher Schriftzeichen bereit, und manche Handsetzer laufen Rollschuh, um die Kilometerleistung des Zusammentragens in kürzerer Zeit bewältigen zu können. Der Gelehrte muß über einen Schatz von durchschnittlich 20.000 Zeichen verfügen, während der Zeitungsleser mit 7000 auszukommen pflegt.

Als zur Zeit des Rokoko die Kultur Chinas in Mitteleuropa bekannt und sogar Mode wurde, schlug der 'große Leibnitz ernstlich vor, die chinesischen Schriftzeichen für die Gelehrtenwelt zu verwenden. Würden nämlich alle wissenschaftlichen Arbeiten in dieser, chinesischen Zeichenschrift vorgelegt, so könnten sie die Gelehrten aller Nationen lesen, und damit wäre die Sprachenfrage endgültig gelöst. Freilich hielt dieser Vorschlag einer genauen Prüfung nicht stand; denn, abgesehen davon, daß sich moderne Begriffe nur sehr kompliziert umschreiben lassen (so Kapitalismus durch „Geld - Wurzel -Politik“ und Kommunismus durch „gemeinsam — Produktion — System“), kann eine Bilder-

schrift die Gedanken auch nicht scharf formulieren, wie das Chinesische selbst bezeugt. Viele Schriftzeichen nämlich lassen der Auslegung einen weiten Spielraum, und angesichts dieser verschiedenen Möglichkeiten der Interpretation zeigt sich der Europäer meist überrascht, wenn er zwei Uebersetzungen miteinander vergleicht. Dichter können in dieser schwankenden Bedeutung der Wahrheit wohl einen mythischen Schimmer verleihen, aber exakte Wissenschaft vermag mit solchen Mitteln kaum zu arbeiten.

Da sich die Schrift außerordentlich schwer lernen läßt, ist ihre Kenntnis auch noch relativ wenig verbreitet. Während unsere Kinder normalerweise nach dem ersten Schuljahr lesen und schreiben können, ist man in China glücklich, wenn ein Zehnjähriges sich 2000 Zeichen angeeignet hat. Der Jugendliche muß an diese Uebungen so viel von seiner Zeit und Aufnahmefähigkeit verwenden, daß er sich nicht in gleichem Maße anderen Wissenszweigen zuwenden kann.

Die Ordnung dieser Zeichen ist ein Problem für sich, und es verlangt die größte Hebung, eine Vokabel im Wörterbuch oder einen Namen im Telephonbuch zu finden. Durch solche Schwierigkeiten sahen sich die interessierten Fremden von je einer geistigen Chinesischen Mauer gegenüber, zu deren Bezwingung ein Menschenleben oft kaum ausreichte. Aus diesem Grunde auch wird die Sinologie auf unseren Hochschulen nur ganz vereinzelt betrieben, obwohl selbst flüchtige Besucher dieses Riesenreiches mit der größten Nation der Welt sich darüber klar sind, daß die chinesische Kultur den Spitzenleistungen der Menschheit zuzurechnen ist.

Nun läßt die Kunde aufhorchen, daß China ernstlich darangeht, das lateinische Alphabet einzuführen und den Schrift von der Bilderschrift zur Lautschrift zu wagen. Die Schwere dieser

Aufgabe ist nicht zu unterschätzen. Soll China nicht in einzelne Nationalstaaten zerfallen, so muß einem Dialekt zum Siege verholfen werden. Schon früher hatte das in Peking unter hohen Beamten und Gelehrten ausgebildete Mandarin-Chinesisch im Reich eine dominierende Stelle. Der Pekinger Dialekt, der längs des Kaiserkanals schon weit nach Süden gedrungen ist, soll nun, in eine Art „Volkschinesisch“ umgearbeitet, zur Nationalsprache und in neuer Schrift durch Schule und Presse weitergetragen werden.

Die Latinisierung des Chinesischen wird wohl viele Schwierigkeiten beheben, aber für China selbst auch neue Probleme aufwerfen. Welcher Gewinn für den fremden Gast, wenn er mit einer erlernten Sprache in direkter Fühlung mit der Bevölkerung ganz China durchreisen könnte! Aber wird sich wirklich eine einheitliche Sprache über alle Dialekte hin durchsetzen, wird sich in sie die transzendente Aussage der Dichter und Denker, die wie eine Wolke am Himmel zerfließt, übertragen lassen?

Man kennt heute die innigen Zusammenhänge zwischen der Nation und ihrer Sprache, etwa in der klaren Logik beim Franzosen, im freien Satzbau und reichen Wortschatz beim phantasiereichen und individualistischen Deutschen, wie auch der stets lächelnd gefaßte Chinese eine für Gemütsbewegung nicht passende Sprache spricht. Man weiß freilich nicht genau, ob nun die Sprache die Nation oder die Nation die Sprache geformt hat. Wie immer sich auch innerhalb von China die Vereinfachung von Sprache und Schrift im Guten oder Schlechten auswirken mag — den vielen Nichtchinesen wird die Tiefe, Weite und Größe jener Kultur erst dann recht zum Bewußtsein gebracht werden können, wenn die geistige Mauer gefallen ist und zahlreichere Forscher als früher auf den nun gangbaren Sprossen zu den Müttern der Ideen Chinas hinabsteigen können.

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