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Die Straße frei…

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Neben dem Kampf um den Reis, den Stahl und den technischen Fortschritt, neben dem Kampf gegen Ungeziefer, Sperlinge und „Revisionisten”, kämpft man in China auch noch an einer anderen Front: gegen die Analphabeten und um die Sprachreform. Wer Massen steuern und beeinflussen will, braucht Propaganda: was nützen aber den Kommunisten Berge von Propagandaschriften, wenn nur ein Teil des Volkes sie lesen kann? Daher wird seit geraumer Zeit fieberhaft an einer Normierung und Vereinfachung der Sprache gearbeitet. Die chinesischen Schriftzeichen — an die 50.000 — sind so kompliziert, daß es nur wenige Gelehrte gibt, die aller Zeichen kundig sind. Ein Mann, der schon 4000 Zeichen beherrscht, ist aber durchaus nicht in der Lage, alle Bücher zu lesen, sondern nur die mit mittlerem Schwierigkeitsgrad.

Das, was die Chinesen „Putunghua” nennen — die „Jangtsebrücke der chinesischen Sprache”, die eine Brücke der Sprachver’tändigung zwischen allen Chinesen werden soll —, ist im Grunde nichts anderes als ein Hilfsmittel für den Drill der 600 Millionen Chinesen nach der Stimme Pekings. Etwa 70 Prozent der chinesischen Bevölkerung sprechen schon Putunghua. 1957 bereiteten sich 721.600 Lehrer von Grund- und Mittelschulen und anderen Instituten auf die „Putunghua” vor; der Rundfunk schaltete sich mit Unterrichtsstunden ein; die Zahl der Lehrbücher überschritt die Fünfmillionengrenze. Mitglieder der „Union chinesischer Schriftsteller” zogen hinaus aufs Land, in die Volks- kommunen, und bauten „Kulturzentren”, Theater-, Schreib- und Debattierklubs, auf. Von ihrer Aktivität ausgelöst, ging eine Woge der künstlerischen und literarischen Betätigung durch das Land. „Noch nie ist in der chinesischen Geschichte geschrieben worden, wie in den vergangenen Jahren”, stellt das Wochenmagazin „Peking Review” fest. „Bauern und Arbeiter”, so heißt es weiter, „haben zu Hunderttausenden — viele von ihnen erst seit kurzem des Schreibens kundig — zur Feder oder, besser, zum Pinsel gegriffen. Vieles hiervon ist zwar nur täglich anfallende Produktion von Berichten und Nachrichten, aber ein großer Teil besteht doch aus lyrischen Beiträgen, aus Erzählungen, Theaterstücken, aus Gedichten…”

Nichts zeigt deutlicher die Umwandlung, in der das chinesische Volk offenbar begriffen ist, als eine Untersuchung dieser propagandistisch forcierten „Volksdichtung”, vor allem, wenn rnan sie mit Gedichten der klassischen chinesischen Literatur vergleicht. Krasse Gegensätze werden sichtbar. Lao Tse, der 604 vor Christi Geburt geborene Verwalter des kaiserlichen Archivs, sang:

„Wer auf den Zehenspitzen steht, I hat keinen Halt. / Wer mit gespreizten Beinen geht, I kann nicht weiter. / Wer gesehen werden will, I wird nicht erleuchtet. I Wer mit sich selbst zufrieden ist, / kommt nicht zur Geltung. I Wer sich selbst lobt, / erlangt keine Ehren. / Wer sich selbst rühmt, / kommt nicht voran.”

Ein für den neuen Geist typisches Gedicht lautet dagegen:

„Unser Schritt macht die Erde beben. / Vor unserem Atem schweigen die donnernden Ströme. / Wir heben die Hände — und Berge, gewaltige, zittern. / Unser Schritt ist vorwärts gerichtet. Gnade / dem, der sich uns in den Weg stellt. / Wir sind die Arbeiter, nichts ist stärker als wir.”

Aus dieser Gegenüberstellung gewinnt man wohl einen ersten Begriff von dem, was unter chinesischer Volksdichtung von heute zu verstehen ist.

Manchen Beispielen der chinesischen Volksdichtung kann eine gewisse lyrische Stimmung nicht abgęsproęhen werden, auch wenn auf dem Umweg über die Transskribierung vom Chinesischen ins Englische und durch die Uebertragung vom Englischen ins Deutsche manches verlorengeht. So heißt es in einem Lied:

„Im geschmolzenen Erz, rot wie die Flamme, / fängt sich die Glut der wandernden Sonne. ! Wenn seine Strahlen wildzuckend den Himmel erreichen, I wird die Nacht zu Ende sein.”

Doch herrschen die rauhen Töne der Parteilyrik vor, wie es das folgende Lied bezeugt:

„Wir Männer der Faust sind härter als Stahl, / Wir holen vom Gipfel den Glanz hoher Sterne, / zerbrechen die Wolken, das felsige Tal I und nehmen den Mond als Arbeitslaterne. / Bei Tag und bei Nacht hat die Arbeit kein Ende, / der Tsingling weicht der Kraft unsrer Hände, / und der Paß von Cienmen öffnet sich vor dem Tritt unsres Fußes.”

Nach Ansicht des chinesischen Literaten Kuo Mo-jo hat der Marxismus dem romantischen Lebensgefühl ein Ideal gegeben und dem Realismus-eine Seele eingehaucht, so daß eine Mischung von revolutionärer Romantik und’ revolutionärem Realismus entstehen konnte, die den Namen „sozialistischer Realismus” trägt.

Dieser „sozialistische Realismus” ist das entscheidende Kriterium für die Bewertung aller Literatur geworden. Was es heißt, Romantik mit revolutionärem Realismus zu verbinden, lehrt eines der neuen Gedichte, das als musterhaft bezeichnet wird:

„Der Bergwind läßt die Gongs ertönen und Trommeln schlagen, die mein Kommen künden. / Das Rauschen der Gewässer klingt in meinem Ohr wie vieler Saiten Klang. / O Wonne, wenn ich das Gesicht im kalten Frost mir bade! / O Glück — wenn ich naß bin vom Schweiße des Schaffens!”

Das Baden des Gesichtes im kalten Frost ist revolutionäre Romantik, das Schwitzen ist revolutionäre Realistik!

Langatmige, abstrakte Argumentation wird abgelehnt, da sie durch die Wirksamkeit eines kräftigen Sinnbildes, durch eine kurze, schlagartige Formulierung übertroffen werde. So ist es verständlich, daß den feinen Formen der alten chinesischen Weisen in der Gegenwart nicht mehr die Liebe entgegengebracht wird wie früher. Durch die Vereinfachung der Schriftzeichen werden die zahlreichen Nuancen eines einzigen alten Symbols bald der Vergangenheit angehören. Mit der Ausrichtung auf den Wortschatz der sozialistischen Revolution werden die Worte wichtiger, die die Verpflichtung zum Produzieren untermauern, als jene, mit denen 232 Jahre vor Christi Geburt Lü Bu-we zur Tugend aufrief: „Die heiligen Herrscher des Altertums dachten zuerst an die Tugend und erst dann an die Leistung.”

An die Leistungssteigerung appelliert aber die chinesische Volksdichtung Mao Tse-tungs zuerst, denn von jeder Dichtung wird erwartet, daß sie ein ideologisches Bekenntnis ist. Aufgabe der Dichtung ist, bestimmte ideologische Probleme zu lösen. „Die Straße frei … verschwunden ist der Jade Kaiser aus dem Himmel.” Das ist das chinesische Lied der Straße, das heute die Dichtung in China beherrscht.

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