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Nicht nur Verständigungsmittel!

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Heutzutage gibt es viele Pessimisten, vor allem Franzosen, die ernsthaft ein allmähliches Verschwinden der französischen Sprache als zweite Kultursprache neben dem Nationalidiom der gebildeten Europäer oder Außereuropäer befürchten. Zugegeben, wenn man sieht, wie der fremdsprachige Französischunterricht im nicht französischsprachigen Ausland zugunsten des Eng-lischunterrichts seit Kriegsende zurückgetreten ist und in Anbetracht der aus den USA und aus England durch kommerzielle Manipulation hereingeschwemmten Engländerei in Sitte und Sprache kann man solche Sorge um die Erhaltung der französischen Sprache als europäische kulturelle Zweitsprache schon verstehen.

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Heutzutage gibt es viele Pessimisten, vor allem Franzosen, die ernsthaft ein allmähliches Verschwinden der französischen Sprache als zweite Kultursprache neben dem Nationalidiom der gebildeten Europäer oder Außereuropäer befürchten. Zugegeben, wenn man sieht, wie der fremdsprachige Französischunterricht im nicht französischsprachigen Ausland zugunsten des Eng-lischunterrichts seit Kriegsende zurückgetreten ist und in Anbetracht der aus den USA und aus England durch kommerzielle Manipulation hereingeschwemmten Engländerei in Sitte und Sprache kann man solche Sorge um die Erhaltung der französischen Sprache als europäische kulturelle Zweitsprache schon verstehen.

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Zwar wird heute noch Französisch offiziell als Umgangs- oder Zweitsprache in Bereichen wie in der Diplomatie und im internationalen Post- und Eisenbahnwesen anerkannt, jedoch nützt das sehr wenig, wenn schon heute viele Bonner und Wiener Staatsmänner in Gesprächen mit französischen Kollegen einen Dolmetscher zu Hilfe nehmen müssen, oder aber mangels Beherrschung der französischen Sprache in Englisch verhandeln. Sehr oft kommt es vor, daß an Schlaf- und Speisewagenpersonal gerichtete Fragen in Französisch nicht verstanden werden und man in Englisch eher eine Antwort erwarten kann.

Doch wie soll man solchen Leuten Vorwürfe machen, wenn täglich sogar französische Touristen in Deutschland, Österreich oder gar Italien ihren Weg in Schulenglisoh erfragen, oder wenn libanesische Hotelboys — trotz der offiziellen Zweisprachigkeit Libanons — oft kein Französisch mehr verstehen, sondern außer Arabisch nur noch Englisch. Wenigstens sprechen dafür aber ihre älteren Kollegen ein ausgezeichnetes Französisch.

Manche eifrigen Verfechter der Französischsprachigkeit verfallen in ihren Bemühungen um deren Erhaltung in Extreme: Einige Frankophone tun einfach so, als hätten sie an sie gerichtete Fragen in Englisch nicht gehört, und ich kenne einen Münchner Reisebüroanges'tellten, der auf die ewige Standardfrage: „Do you speak English?“ böswillig mit: „No, but French!“ antwortet. Und siehe da: in den meisten Fällen konnte der Kunde sich auch in Französisch verständlich machen, meist noch viel besser, besonders wenn er aus einem romanischen Land, aus Südosteuropa oder gar aus Kanada kam.

Verfechter des Französischen als internationaler Verkehrssprache (die zugleich auch meist Verfechter ihrer eigenen Volkssprache, sei es Deutsch, Arabisch oder Chinesisch, sind) sollten sich jedoch nicht provozieren lassen und das Phänomen der raschen Verbreitung von Englisch als Weltsprache etwas gelassener sehen. Denn bei näherem Hinsehen entpuppt sich, daß der Wortschatz der Masse der (Schul-) Englischsprechenden wesentlich ärmer ist als das Vokabular und damit die Ausdruckskapazität der Französischsprechenden, die ihre Sprachkenntnisse sehr oft — durch bildungspolitische Umstände bedingt — nicht in der Schule, sondern im Selbststudium und im Verkehr mit Frankophonen erworben haben, wobei die Nähe echt französischsprachiger Gegenden sehr zustatten kommt.

Hingegen besitzen die Neo-Anglo-phonen zwar mit Englisch eine Zweitsprache, zweisprachig sind sie darum aber noch lange nicht. Sie können sich vor allem nur klischeehaft ausdrücken, wie: Wünsche äußern und gängige Informationen empfangen. Zu einer abstrakten Ausdrucksweise, die ja eigentlich die Bedingung für einen fruchtbaren Ideenaustausch auf höherer geistiger Basis bildet, reichen die Englischkenntnisse dieser Menschen nun denn doch nicht.

Die Lektüre ist der Hauptschlüssel zü der einen oder anderen fremdsprachigen Kultur. Fest steht jedoch, daß sich in den Bücherschränken (falls vorhanden) der Mode-Anglo-phonen meist nur ein einziges englisches Buch befindet: eben ihr altes Schulbuch. Man kann höchstens noch das eine oder andere Taschenbuch ausmachen, das früher mal mit gutem Willen angeschafft, jedoch mangels ausreichender Sprachkenntnisse leider nicht zu Ende gelesen wurde. Wie anders jedoch sieht es in den Bibliotheken derer aus, deren Zweitsprache Französisch ist! Manch alter französischer Klassiker vererbte sich von den Großeltern oder Eltern auf den Sohn, und wenn diese Bücher nicht gerade an die Antiquariate verscheuert wurden (die voll von solchen bibliophilen Kostbarkeiten sind), dann schaut er doch noch von Zeit zu Zeit hinein, und schafft sich in jedem Falle regelmäßig ein „livre de poche“ oder die eine oder andere französische Zeitung oder Zeitschrift an, was der Erhaltung seiner französischen Ausdruckskapazität natürlich sehr zugute kommt.

Englische Bücher werden jedoch auf dem europäischen Kontinent kaum vererbt. Ohne Zweifel gibt es auch sehr bedeutende englischsprachige Klassiker und Schriftsteller, wie Charles Dickens, Mark Twain und Hemingway (wer liest denn schon Shakespeare im altenglischen Original!), jedoch um wieviel älter ist die literarische Tradition in Frankreich, wie ungleich größer die Auswahl an bedeutenden, meist bahnbrechenden Büchern!

Für den, der neben seiner Muttersprache noch Französisch beherrscht, ist es ein leichtes, in die französische Kultur einzudringen, in dieser Sprache Ideen — auch kompliziertere, abstrakte — auszutauschen, ja sogar sie schöpferisch zu verwenden. Dies alles sind Möglichkeiten, die einem auf Englisch umerzogenen Kontinentaleuropäer verschlossen bleiben, es sei denn, er fände von sich aus die Kraft, weiter in die Anglophonie einzudringen, denn mit „do you speak English“ und „you must take this street“ ist es noch lange nicht getan.

Häufig trifft man noch heute in Rumänien, in der Türkei und in Griechenland — um nur einige Beispiele zu nennen — bürgerliche Familien, deren Mitglieder sich von Zeit zu Zeit untereinander in Französisch unterhalten. Dies ist die Tradition einer geistigen Elite, wie sie vor dem ersten Weltkrieg auch in Deutschland, Österreich-Ungarn, Rußland und anderswo bestand. Diese Tradition ist heute das Privileg von gebildeten Familien in Indoq china, afrikanischen und arabischen Ländern. Bisher fehlt es an Beispielen von einem ähnlichen Gebrauch der englischen Sprache in dieser Elite.

Fazit: Englisch bedeutet für den größten Teil der nicht von Geburt auf Anglophonen eine ausdrucksarme reine Kommunikationssprache, in der sie sich nur in einem sehr beschränkten Maße ausdrücken können. Wenn in Englisch gelesen wird, so sind dies meist für den Beruf wichtige technische Bücher, deren Lektüre jedoch das Ausdrucks- und Kulturniveau keinesfalls hebt.

Zweifelsohne wird sich in den kommenden Jahren die Anzahl der „Englischsprechenden“ noch mehr erhöhen, die der französischsprachigen internationalen Elite wird jedoch etwa gleich stark bleiben, und sie wird sich in ihren Beziehungen, schriftlich wie mündlich, immer dieser Sprache kreativ zu bedienen wissen.

Darum kann das derzeitige Massenphänomen der Englischsprachig-keit für die Frankophonen nur insofern eine ernsthafte Konkurrenz bilden, als es letzteren nicht gelingen sollte, dem anglophonen Ansturm standzuhalten, und noch weitere, vor allem jüngere, Menschen für ihre alte, traditionsreiche und weiterhin bedeutungsvolle Weltsprache Französisch zu gewinnen.

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