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Latein hat mein Leben bereichert

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Und wieder ist die Lateindiskussion aufgeflammt. Wieder sehe ich mich in die schier end- und scheinbar erfolglose Defensive gedrängt, etwas - zu dem niemand gezwungen ist - verteidigen zu müssen, weil es mir gefällt, weil ich es zu einem Bestandteil meines Berufes gemacht habe. Mit dieser Verteidigung wird mir auch sofort die Verteidigung des Abendlandes unterstellt, denn die gesamte abendländische Kultur scheint ja bedroht.

Ich glaube nicht, daß unsere abendländische Kultur verlorengehen könnte, würde in den Schulen ab sofort nicht mehr Latein unterrichtet. Ein bedeutender Teil aber, ein Zugang ginge wohl für immer verloren.

Ich möchte hier nicht über meine Bereicherung durch die Lektüre der Klassiker Vergil, Catull, Ovid, Horaz reden, deren Gestalten in Literatur und Kunst nicht wegzudenken sind. Die fortleben, weil das Neue immer das Alte gebraucht hat - als Stoff für Veränderung, Verehrung oder zur Abgrenzung. Auf alle Inhalte und Möglichkeiten des Lateinunterrichtes einzugehen, würde diesen Rahmen sprengen. Ich möchte mich deshalb im folgenden auf die Sprache an sich beschränken.

Daß Latein eine Grundlage für das Erlernen romanischer Sprachen ist, wird niemand leugnen, der sie in dieser Reihenfolge gelernt hat. Sicher ist es ein fragliches Argument, zuerst Latein zu lernen, um dann leichter Französisch zu lernen. Hier liegt meines Erachtens ein schwerwiegender Fehler: Latein' ist nicht wichtig im berufsorientierten Denken, es ist eine Bereicherung im persönlichen Erleben. Ich kann sehr gut ohne Latein leben, so wie ich ohne Klassiker, ohne Theater, ohne Geschichtswissen und ohne Tageszeitung leben -Zyniker würden sagen: überleben - kann.

Und wie wichtig ist Französisch, eine Sprache, mit der man sich gerade in Frankreich, einem Teil Kanadas und in Teilen Nordafrikas verständlich machen kann - alles Länder, in denen die Jugend auch Englisch lernt? Und sollten wir als

Mitteleuropäer außer dem westlichen Englisch nicht viel eher eine slawische Sprache lernen?

Eigentlich mißfällt mir schon die Gegenüberstellung Französisch-Latein, die sich nun in vielen Gymnasien ab der dritten Klasse ergibt. Als ob das eine durch das andere ersetzt werden könnte. Ich habe beide Sprachen (neben drei weiteren) gelernt. Es hat mir Spaß gemacht und macht mir noch immer Spaß, mich in fremden Sprachen zu unterhalten.

Und es hat mir auch großen Spaß gemacht, Sprache aus einem ganz anderen Blickwinkel zu sehen, zu erkennen, wie Sprache funktioniert, wie Kommunikation und wie manipula-tiv Sprache sein kann. Für diese Fragestellungen und Beobachtungen ist im modernen Fremdsprachenunterricht kein Platz, und sie sind da wohl auch nicht sinnvoll, wo phraseologisch und quasi „natürlich" gelernt wird.

Vielleicht hat die intensive Auseinandersetzung mit Sprache an sich im Lateinunterricht erst mein Interesse und meine Motivation für Sprachen geweckt. In jedem Fall hat mir die Übersetzungsarbeit, die eine sehr intensive Beschäftigung mit beiden Sprachen, vor allem aber der Zielsprache, erfordert, viele Einblicke und bessere Fertigkeiten in meiner Muttersprache gebracht.

Noch etwas zum etymologischen Bereich der Verwandtschaft und der Geschichte von Sprachen: Wer ist sich heute noch bewußt, daß etwa die Wörter „Dach" und „Ziegel" urverwandt sind? „Dach" über „decken" von der indogermanischen Wurzel „teg", von der auch das lateinische „tegula" kommt, das als Fremdwort noch vor der zweiten Lautverschiebung ins Deutsche gekommen ist. Im Unterschied zu „Tiegel" und „Tegel", die -vom selben Wort - erst viel später übernommen worden sind. So viel zum Thema „tote Sprache".

Aber auch im semantischen Bereich bin ich im Deutschen viel bewußter geworden. Wer überlegt sich denn, daß im Wort „anfangen" noch die Wurzel „fangen, anpacken" steckt, wenn er nicht gerade über das Kompositum „incipere" (anfangen) von „capere" (fangen) stutzig wird. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, bis in manche Redensarten, und vieles gäbe

Anlaß für (kultur-)philosophische Überlegungen: Warum haben die Lateiner nur ein Wort für Freizeit — „oti-um", aber keines für Arbeit („negotium" - „Nichtfreizeit")?

In meinem Lateinunterricht hat es für all diese Dinge Zeit und Gelegenheit gegeben, und ich bemühe mich, das auch mit meinen Schülern so zu halten. Manch einer mag sie als Kleinigkeiten abtun, mein Leben haben sie bereichert. Ich bin hellhöriger geworden bei sprachlichen Unscharfen und Mißverständnissen, und sicherer im eigenen Formulieren, weil ich so oft angehalten war, einen vorgegebenen Sachverhalt exakt und richtig in meiner Muttersprache wiederzugeben.

Daß ich durch Latein leichter Französisch lerne, ist für mich kein Argument, Latein zu lernen. Weil ich aber dadurch alle romanischen Sprachen (die Welthandelssprache Spanisch, das touristisch interessante Italienisch und so weiter) um etliches schneller lerne, gestehe ich es mir zu. Und wir sollten es auch unseren Kindern zugestehen. Für diese Zeitersparnis und Effektivitätssteigerung später nehme ich die vordergründige Unwichtig-keit, gerne in Kauf und werde über Umwegrentabilität vielfach belohnt.

Die Autorin,

Jahrgang 1966, ist AHS-Lehrerin für Latein und Deutsch

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