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Enteignet das Latein!

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1 Nachträglich recht behalten • zu haben: das Gefühl schmeichelt der Eitelkeit und macht zugleich traurig. Der Schmerz überwiegt. Die erbarmungslose Kraft und Wirkung der Fakten wird, wie im Lichte eines Blitzes, plötzlich erkennbar. Was versäumt worden ist, kann nicht in der ursprünglichen Form nachgeholt werden. Die Chronologie ist irreversibel. Für die Späteren bleibt immerhin die Möglichkeit offen, aus den weit zurückliegenden Fehlentscheidungen anderer zu lernen.

Das setzt Lernfähigkeit voraus. Sie wird oft beeinträchtigt: nicht durch das Unvermögen, sondern durch politischen Fanatismus. Was in solchen Fällen Weltanschauung genannt wird, müßte folglich als Weltblindheit bezeichnet werden.

2 Im Jahr nach dem Krieg war • ich fünfzehn, also in einem Alter, in dem man beginnt, offenen Auges in die eigene Zukunft zu blicken. Im Aufbruch der Pubertät scheiden sich die Geister: manche sehen nur sich selbst, andere begreifen sich als Teil einer größeren metaphysischen und sozialen Einheit. Gründe, die hier nicht zu analysieren sind, veran- laßten mich, diesen zweiten Weg zu beschreiten.

Beschreiten ist nicht das richtige Wort. Man bewegte sich gleichsam im Laufschritt. In Gesellschaft von Gleichgesinnten stürmten wir auf ein nur geahntes, gleichwohl beglückendes Ziel zu.

Gemeinsamkeit erleichterte das Träumen. „Schwärmen“ kommt aus Schwarm. Wir schwärmten für eine wirklich demokratische Gesellschaft freier Menschen, die - gebildet und verantwortungsbewußt — in der Lage waren, das Leben des Gemeinwesens und ihr eigenes Leben klug und tatkräftig zu gestalten.

In diesem Land Utopia hatte selbstverständlich jeder freien Zugang zu den Werken der Kultur. Warum sollte ein Werkmeister in seinen freien Stunden nicht Plato lesen? Warum soll einer Hausfrau die Liebeslyrik Petrarcas verborgen bleiben? Warum sollen die Männer der Müllabfuhr am Wochenende kein symphonisches Konzert besuchen? Und warum, ja warum soll nicht jedermann einen Zutritt zu den Fundamenten jeder gründlichen Bildung haben, zum Latein also?

Nein, Latein durfte nicht länger ein Privileg sein! Wir träumten von Lehrlingen, die in der Tasche Ihres Overalls ihren Catull stek- ken hatten, und von Landwirten, die sich an langen Winterabenden, Vergils „Georgica“ in der Hand, über das bäuerliche Leben früherer Zeiten informieren würden.

Die Vision rief nach einer Parole. Sie lautete: „Enteignet das Latein!“

Woher hätten wir damals geahnt, daß bereits in wenigen Jahren über Ost und West im Zeichen der falsch verstandenen Demokratisierung eine Bildungspolitik hereinbrechen würde, die Quanitität mit Qualität bezahlen will? Man war offenbar der Meinung: Je größer die Zahl der Ausgebildeten, umso seichter müsse die angebotene Bildung sein. Im Zeichen dieser auf Anspruchslosigkeit hinzielenden Verachtung der Lernfähigkeit der großen Massen wurde natürlich auch unser Latein zurückgedrängt. Uber die Folgen dieser faktischen Entrechtung wird bei uns vorläufig wenig diskutiert. Man sieht sie nicht oder man gibt vor, sie nicht zu sehen. Ist Verblendung heilbar? Eine Stellungnahme aus dem Osten könnte manchen vielleicht die Augen öffnen. Sie war unter dem Titel „Gegenmeinung zum Sprachenlernen“ in der ungarischen Tageszeitung „Magyar Nemzet“ am 13. August 1983 zu lesen. zum Beispiel bei den Vorbereitungen zum Studium der Medizin und der Geschichte, müßte man die Forderung nach einer Maturaprüfung in Latein (oder nach gleichwertigen Sprachkenntnis- sen) wiederherstellen ... Natürlich wird auch dadurch die Aufgabe noch nicht ganz gelöst, daß die Menschen später in die Lage versetzt werden können, verschiedene Sprachen zu erlernen, aber wenigstens bei denen, die höhere Studien betreiben wollen, wären die Vorbedingungen gegeben.“ Der Schluß? Nicht die völlige Rückkehr zum alten Gymnasium, sondern „eine Teilrevision unserer eigenen Schulpolitik“.

3 „Es ist allgemein bekannt, daß wir im Erlernen von Sprachen ziemlich zurückgeblieben sind“, so beginnt der marxistische Philosoph Istvän Hermann seine Ausführungen. „Das hat“, fügt er hinzu, „sehr , viele Auswirkungen, sogar auf die Touristik, sogar auf die Wissenschaft.“

Warum hat man aber Schwierigkeiten mit dem Erlernen von Fremdsprachen? Schuld ist das Schulsystem.

„Der Lehrplan des alten Gymnasiums“, schreibt Hermann, „hatte hinsichtlich des Erlernens von Fremdsprachen einen besonderen Vorzug... Im Mittelpunkt des ganzen Lehrplans ist der Lateinunterricht gestanden. Und das Lateinlernen hat zum Erlernen anderer 1 indoeuropäischer Sprachen eine entscheidende Hilfe geboten.“

Das Zurückdrängen des Lateins hatte politische Gründe: „Die ungarische Linke forderte lange Jahrzehnte hindurch die Einstellung des latinzentrischen Unterrichts, da sie der Meinung war, auch das Latein sei ein Beweis dafür, daß man in der Schule Dinge erlernen muß, deren Wissen unwichtig ist.“ In der damaligen Lage war, nach der Ansicht Hermanns, die Forderung verständlich, allerdings ist festzustellen: „Trotzdem hat sich diese in vieler Hinsicht berechtigte Forderung der Linken historisch in ihren Folgen als unrichtig erwiesen.“ Hermann zieht die logischen Folgerungen:

„In ganz bestimmten Fächern, zum Beispiel bei den Vorbereitungen zum Studium der Medizin und der Geschichte, müßte man die Forderung nach einer Maturaprüfung in Latein (oder nach gleichwertigen Sprachkenntnissen) wiederherstellen ... Natürlich wird auch dadurch die Aufgabe noch nicht ganz gelöst, daß die Menschen später in die Lage versetzt werden können, verschiedene Sprachen zu erlernen, aber wenigstens bei denen, die höhere Studien betreiben wollen, wären die Vorbedingungen gegeben.“

Der Schluß? Nicht die völlige Rückkehr zum alten Gymnasium, sondern „eine Teilrevision unserer eigenen Schulpolitik“.

4 Die Maßnahmen, die das Latein in Ungarn aus den Schulen verdrängt haben, liegen um mehr als dreißig Jahre zurück. Eine ganze Generation ist im wesentlichen ohne Lateinkenntnisse aufgewachsen. Mediziner, Historiker, Biologen waren gezwungen, während des Universitätsstudiums das Versäumte nachzuholen, und zwar zu einer Zeit, die sie völlig ihrem Fach hätten widmen sollen. Aber auch alle anderen Menschen haben, da man ihnen das Latein vorenthalten hat, Schwierigkeiten mit den Fremdsprachen. Die Folgen machen sich, nach Hermann, auch auf dem Gebiet des Tourismus bemerkbar. Das heißt: Der radikale Verzicht auf das Latein drückt die Zahlungsbilanz des Landes. Woraus erhellt: auch die Budgetpolitik beginnt bei der Schulpolitik.

Werden die Fanatiker wenigstens diese Sprache—die metallen klingelnde Sprache des Geldes — verstehen? Oder werden sie ihre eigenen Fehler und die Fehler anderer solange wiederholen, bis sich eine nächste Generation, nach abermals dreißig Jahren, gezwungen sieht, in einer neuen Bildungsrebellion die Rückkehr zum Latein zu erkämpfen?

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