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Catull in der Werkstatt

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Wir saßen damals viele Nächte hindurch im Untermietzimmer auf den Betten, denn es gab nur zwei Stühle und auf diesen lagen Bücher zu wankenden Türmen gestapelt. Wir planten - was sonst? - das zukünftige Leben der Menschheit, denn mit weniger wichtigen Dingen mühten wir uns nicht ab, und außerdem waren wir - wer sonst? - dazu berufen, die Zukunft auf dem Wege der Evolution oder der Revolution, im Zeichen der Philosophie oder der Anarchie zu gestalten. In unseren Diskussionen, die ohne Hilfe alkoholischer Getränke -die wir aus Gründen des Rationalismus verächteten - das rauschhafte Glück geordneter Visionen hervorbrachten, in unseren systematischen Träumereien wurde auch der lateinischen Sprache eine ganz bestimmte Rolle zugewiesen.

Die gegenwärtige Diskussion über die Stellung des Lateinunterrichts in den Schulen ruft mir jene im schönen Eifer eines neuen Aufbruchs entworfenen Pläne in Erinnerung; und ich möchte sie mit der Bemerkung skizzieren, daß ich sie auch heute, bald dreißig Jahre später, für richtig und für realistisch halte.

Was soll also - so fragten wir uns -mit dem Latein geschehen, mit einer Sprache, die nicht mehr gesprochen und im alltäglichen Leben scheinbar auch nicht gebraucht wird, die aber unser Wesen in zweifacher Hinsicht geformt hat und immer noch formt: als Element der Geschichte, die in uns weiter existiert, und als sprachliche Struktur, die in unsere Philosophie ebenso hineingewachsen ist wie in unsere lebendigen Sprachen, die wir täglich gebrauchen? Sollen wir auf das Latein im Zeichen eines neuen Aufbruchs verzichten und unser Denken dadurch gleichsam amputieren, so daß wir jene helle Welt der geordneten Zukunft als geistigen Trost, verstümmelt und unseres wahren Wesens nicht mehr bewußt erreichten? Die Antwort lautete: Nein. Der Verzicht auf Latein bedeutete keinen Fortschritt, sondern einen Rückfall in die innere Welt des Un-wissensoind zugleich in vorrömische Zeiten der Kulturgeschichte, also ins Barbarentum.

Den Gedanken, das Latein in den Schulen durch mehr naturwissenschaftlichen Lehrstoff oder durch praktisches Wissen über Dinge des Alltags zu ersetzen, verwarfen wir mit der Begründung: Wir wollen den Menschen befreien und Freiheit ist nur in einem Weltbild des Universalismus, also auch der Geschichtsbewußtheit, möglich; außerdem war das praktische Wissen bei der derzeitigen Entwicklung der Technik nach Verlassen der Schule bereits völlig überholt und also wertlos.

Empörend allerdings blieb, daß Latein offenbar ein Vorrecht war, das man mit Geld oder mit einer bestimmten Berufswahl erkaufen konnte. Priester, Ärzte, Apotheker, Juristen und freilich Historiker konnten noch auf eine gewisse sinnvolle Funktion der lateinischen Sprache für ihre Berufe hinweisen; warum aber durften nur die Schüler der Gymnasien am Lateinunterricht teilnehmen, meistens Kinder wohlhabender Eltern, die also auf diesem Wege ein unverdientes Privileg genossen und zudem auch noch das Gefühl einer gewissen sprachlichen Kumpanei mit auf den Weg bekamen, denn durch ihr Latein konnten sie sich in der^anzenJWelt als Mitglieder einer Elite legitimieren. Die Ungerechtigkeit war empörend, durch keinen vernünftigen Grund gerechtfertigt, und also zogen wir ohne Zögern die Konsequenzen in Form der Forderung: Enteignet das Latein!

Wir entwarfen ein Schulsystem, das allen jungen Menschen im ent-sprechener Alter (wir dachten an 13) das Erlernen der lateinischen Sprache zwar nicht zwingend vorschreiben, aber ermöglichen würde, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Herkunft oder auf den weiteren Studienweg. Jeder Mensch hatte ein Recht darauf, die Struktur der europäischen Geschichte und der eigenen Denkungsart zu kennen; zudem mußte die Entwicklung der Produktionsmittel und der Produktionsverhältnisse eines Tages eine Stufe erreichen, die dem Menschen vom Fron der physischen Arbeit befreite und ihm die Zeit und die Lust gab, sich mit nicht unmittelbar nutzbringenden Dingen spielerisch zu beschäftigen.

Wir wußten von nun an, daß Lehrlinge in der Mittagspause nach der Einnahme eines gesunden Mahles ihren Ovid oder Catull lesen und sich über verwinkelte Fragen der Übersetzung unterhalten würden; wir sagten voraus, daß die Landwirte an den langen Winterabenden in ihrem Horaz blättern oder sich den Tacitus vornehmen würden; wir sahen den Autobuschauffeur, der während der Verschnaufpause an der Endstation die Komödien des Plautus oder des Terenz wohlgelaunt schmunzelnd verschlang. (Nur den Cicero wollten wir niemandem zumuten, denn er war uns - weiß Gott, warum - nicht sympathisch.)

Wenn heute von diesem und jenem der Verzicht auf Latein, dieses Zeichen der Aufgabe bereits errungener geistiger Positionen gefordert und uns auf diese Weise ein reaktionärer Wunsch als Programm des Fortschritts präsentiert wird, so möchte ich an jene tatsächlich progressive Forderung unserer Utopie erinnern: Nicht nur die kleine Gruppe der Privilegierten, sondern jeder Mensch hat ein Recht darauf, die lateinische Sprache zu erlernen!

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