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Fremder Geist in eigner Sprache

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Seit der Verbannung der lateinischen Sprache aus den Hallen der Wissenschaft ist aus „dem Gespräch der Fakultäten über die Wahrheit“ ein Gerede der Nationen geworden. Zu Anfang waren einzelne Stimmen noch verständlich, solange Deutsch, Englisch und Französisch noch als wissen- sdiaftliche Vermittlungssprachen fungierten, doch später ging die Wissenschaft den umgekehrten Weg der Technik, die die Kontinente zusammenschloß. Die Resultate der wissenschaftlichen Erforschungen bei kleinen und großen Völkern bleiben so jahrzehntelang unbeachtet, historische Irrtümer, längst schon aufgedeckt, werden weitergeschleppt, weil keine entsprechenden Übersetzungen vorhanden ind. Kein Zweifel, ohne Übersetzung wäre ein Zusammenleben der Völker ausgeschlossen, und dennoch führt die bloße Übersetzung den, der ihr rückhaltslos vertraut, zu der Fata Morgana eines einheitlichen menschlichen Denkens und zu einer falschen Auffassung menschlicher Erkenntniskraft.

Gegenständlichkeit und Wesen der Dinge erfaßt das Denken durch den Begriff und das Urteil, deren sämtliche Möglichkeiten die Logik darzustellen versucht. Das Zeichen des Begriffes ist das Wort, des Urteils der Satz. Die Möglichkeiten dieses Zeichensystems zu erfassen, ist Aufgabe der allgemeinen Grammatik. Den deduktiv gewonnenen Ergebnissen der Logik und allgemeinen Grammatik steht jedoch die Erfahrungstatsache gegenüber, daß keine Sprache sämtliche Möglichkeiten der Denkformen erfaßt, sondern nur eine größere oder geringere Anzahl.

Jede menschliche Sprache schränkt durch ihre bestimmte Struktur die absolute Freiheit des Denkens nach einer bestimmten Richtung ein und der die Dinge nur vom Denksystem seiner eigenen Sprache ohne Kritik zu betrachten gewohnt ist, wird sich der Voraussetzung seiner Anschauungen auch nicht bewußt. Er glaubt an die absolute Richtigkeit seiner eigenen Weltbetrachtung. In dieser Auffassung wird gerade noch durch Übersetzungen derjenige bestärkt, der meint, die Dinge eben nur wieder durch das Zeichen- und Denksystem seiner eigenen Muttersprache erfassen zu können. Er ahnt nicht, daß nicht nur Gegenstände des Alltags, von denen er sich umgeben findet, in einem anderen Lande entweder gar nicht vorhanden sind oder einen ihm völlig unbekannten Gegenstand meinen.

Sind aber Übersetzungen schon an sich schlecht? Oder soll man etwa überhaupt keine Übersetzungen herausgeben, sondern entweder nur in einer einzigen Weltsprache sdireiben oder die verschiedenen Sprachen lernen? Die Prokla- mierung einer einzigen Weltsprache für alle Gebiete des Lebens würde zwar unzählige Schwierigkeiten scheinbar leicht beseitigen, aber doch die Möglichkeit der geistigen Dialektik bei der Endlichkeit dieser Sprache auf ein unfruchtbares Minimum einschränken. Daß für bestimmte Bereiche menschlicher Zusammenarbeit und für Tagungen nur eine kleine Anzahl von Sprachen in Betracht kommt, erfordert die Zweckmäßigkeit. Wer sich aber wirklich für das Denken und das geistige Schaffen eines Volkes interessiert, muß seine Sprache lernen, sonst kann er kein vorbehaltloses Urteil über dieses abgeben.

Wie vorsichtig man bei der Beurteilung des Originals auf Grund einer Übersetzung sein muß, zeigen die Bedenken, die die großen Vermittler von Kulturschöpfungen selbst Vorbringen. Der Philologe Haupt erklärt: „Das Übersetzen ist der Tod jedes Verständnisses“ und W. v. Humboldt schreibt an W. Schlegel: „Alles Übersetzen scheint mir schlechterdings ein Versuch zur Auflösung einer unmöglichen Aufgabe. Denn ein jeder Übersetzer muß immer an einer der beiden Klippen sdieitern, sich entweder auf Kosten des Geschmacks und der Sprache seiner Nation zu genau an sein

Original oder auf Kosten seines Originals zu sehr an die Eigentümlichkeit seiner Nation zu galten. Das Mittel hiezwischen ist nicht bloß schwer, sondern geradezu unmöglich.“ Jules Legras hat in seinen „Reflexions sur l’art de traduire“ (Paris 1939) auf Grund von Beispielen aus der deutschen, englischen, russischen und tschechischen Sprache die fast unlösbare Aufgabe gezeigt, gewisse Stücke in das Französische zu übersetzen. Und doch bewies er mit diesem Versuch wieder die Richtigkeit der Auffassung jener, die in dem Versuch allein, diese Aufgabe zu lösen, schon das Wirken geistformender Kräfte erkannten. P. Cauer hat vor 50 Jahren die Kunst des Übersetzens mit der des Musikers und des Schauspielers verglichen. „Beiden ist es gemeinsam, daß die künstlerische Leistung mit dem Augenblicke vorüberrauscht, der sie geboren hat, und jedesmal von neuem erzeugt werden muß.“

Doch soll hier nicht von den Werten des künstlerischen Erlebens die Rede sein, das doch in den meisten Fällen subjektgebunden bleibt, sondern von jener tiefen Wirkung auf die geistige Haltung, die nicht nur für ihn allein, sondern für seine Umgebung von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

Jedes Sprachstudium, das über !en Zweck, die täglichen Bedürfnisse zu befriedigen, hinausgeht, hebt nicht nur die memnotechnischen Fähigkeiten und das Verständnis der Muttersprache, sondern schärft auch das Irische Denken. In beiden Fällen ist es auch nicht gleichgültig, ob eine Sprache des gleichen Kulturkreises mit großer Ähnlichkeit, wie sie etwa zwischen Deutsch und Englisch besteht, gelernt wird oder die Beziehungen der einzelnen Satzglieder an einer stärker verschiedenen Sprache, wie das Latein, erkannt wird. Desgleichen ist es von allergrößter Bedeutung, den entwicklungspsychologisch rich tigen Zeitpunkt des beginnenden Beziehungsdenkens, das heißt zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr, zu erfassen, ein Gesichtspunkt, den erst jüngst R. Meister auf Grund der jugendpsychologischen Untersuchungen der Schule Bühler wieder unterstrich.

Die Ähnlichkeit vieler Kulturgüter Mittelund Westeuropas sowie die Gleichartigkeit der Problematik läßt bei dem Studium der modernen Sprachen allein auch viel weniger die Entwicklung des Verständnisses für ge- sdiichtliche und kulturelle Verschiedenheit reif werden, als dies bei der Erlernung der beiden antiken Sprachen der Fall ist. Die lateinische Sprache lehrt die gemeinsame Wurzel abendländischer Ratio in der Romanitas und dem Christentum trotz der' Vielfalt der nationalen Eigenarten erkennen. Das Griechische aber führt über Byzanz zu dem Verständnis der östlichen Welt. So wird eigentlich das Gymnasium die Schule der europäischen Einheit, denn in ihm treten Ost und West zu jenem fruchtbaren Gespräch zwischen Verstand und Glaubenskraft zusammen, an dem jeder teilnehmen muß, der sich nicht dem Rationalismus noch deterministischer Mystik ausliefern will.

Die historische Entwicklung zu kennen, bedeutet auch den Blick und das Empfinden für die Bedeutung der sozialen Bedingungen zu haben. Aus diesen Bedingungen verstehen sich vielfach Wortwahl, Ton und Rhythmus der verschiedenen Gesellschaftsschichten und bedingen außerdem psychologische und soziale Einfühlungsgabe. Aus der Schwierigkeit, jederzeit den richtigen Ausdruck für die Übersetzung zu finden, kommt erst jene wohltuende Bescheidenheit, die, weit entfernt von sklavischer Unterwürfigkeit, das Wissen um die eigene Endlichkeit kennt.

Gelegentlich der Debatte um die zukünftige Sdiulgestaltung taucht immer wieder die Behauptung auf, Übersetzungen würden denselben Dienst leisten wie das zeitraubende Erlernen von „toten“ Sprachen. Eine Gegenüberstellung des Wertes von Übersetzung und Übersetzen dürfte wohl Bedenken gegenüber der Richtigkeit dieser Behauptung kaum als nebensächlich erweisen. Würde sie aber Gehör finden, dann würde mit dem Fall der humanistischen Schule ein Großteil unserer Kulturgüter als unverstandener Besitz aus dem Leben des Volkes schwinden und ein Museumsdasein fristen wie indische und chinesische Bronzen und Plastiken. So liegt auch in der Wahl zwischen Urteilslosigkeit oder Einsicht, die Wahl zwischen Übersetzung oder Übersetzen mit eingeschlossen.

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