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Demosthenes 1966

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„DIE EMPFEHLUNG EINER VERMEHRUNG des Grundbestandes an Lehrstühlen an jeder Hochschule wird begrüßt, jedoch bedarf insbesondere die Konzeption des Schwerpunktes und ihre praktische Durchführung noch mannigfacher Überlegungen.“ So sagte der Funktionär. Es fielen auch Worte wie „Qualitätsebene“, das „Tragbare“. Er „bekannte“ sich mehrmals auch dazu, daß nun all dies im „Rahmen des Plans zur Durchführung gelangen“ müsse. So ging es fort und fort, bis man ihm am Ende der Rede ruhigeren Gewissens hätte bescheinigen können, daß er nachweisbar keine wie immer geartete innere Beziehung zu dem von ihm gesprochenen Text hatte.

Reden ist wichtig, heute mehr denn je. Wer sich mit einer Rede ins rechte Licht zu setzen vermag, hat den ersten Schritt zum Erfolg getan. Gelegenheiten bieten sich vor allem im öffentlichen Leben. Es gibt Sonntage ohne Regen, solche ohne Sonnenschein, aber Sonntage ohne Reden 'hat es noch nie gegeben. Dabei wird stets viel geredet, aber wenig gesagt. Die Rede, die politische hauptsächlich, gehört . indes heute noch wie zur Zeit der alten Griechen zum wichtigsten Argumentationsmittel.

IN DER PHILOSOPHIE LEHRTEN die Sophisten in den ersten Rednerschulen des perikle- ischen Griechenlands, wie man über alles und jedes zwei Reden halten könne, eine dafür und eine dagegen. Sokrates lehrte, das Wort nach dem sittlichen Wert zu beurteilen. Der Exstotterer Demosthenes wiurde zum berühmtesten Redner seiner Zeit. Von ihm stammt die „Philippika“, womit eine Rede gegen König Philipp von Makedonien gemeint war. Den ersten Wortsieg in Rom errang Menenius Aigrippa. Seiner gewandten Dialektik gelang es, die Plebejer,

die aus Protest gegen den Senat zum Heiligen Berg gezogen waren, zur Rückkehr zu bewegen. In der Institution der Volkstribunen schuf Agrippa die Möglichkeit der öffentlichen rhetorischen Auseinandersetzung. Cicero, der geschliffenste Redner Roms, hat uns 57 seiner Reden hinterlassen, von denen mehrere sicher nie gehalten wurden, aber bei Maturakandidaten Alpträume hervorrufen.

In Rom wurde die Kunst des Streitens ausgebildet. Es war nie Freistil. Man beobachtete Klugheit und Fairneß, verwendete aber sonst alle Tricks. Da war etwa die Rede von Argumenten ad majorem, ad minorem, e contrario, von der Widerlegung ad absurdum und der Retourkutsche. In den Klosterschulen des Mittelalters lehrten die Geistlichen die Kanzelrede. In den Untertanenstaaten Europas aber verschwand die Volksrede. Erst im

19. Jahrundert kamen wieder (wenn man hier auf Luther oder Abraham a Sancta Clara nicht näher eingeht) gute Redner zu Wort. Man denke an Bismarck, Plener, Carlos Auersperg, Hasrier, Lueger, überhaupt an die liberale Ära. Im Reiche Hitlers ist viel geredet worden. Die „lingua tertii imperii“ war eine Verballhornung der Sprache. An der Spitze stand der „Führer“, der auch beim Dialog den Monolog liebte. Er hatte im zweiten Band von „Mein Kampf“ so etwas wie einen Leitfaden für Demagogen entworfen. Hitler war ein erfolgreicher Redner, aber kein Meister der Sprache, der sich bekanntlich jeweils auf sein Publikum einstellte. Neben ihm stand Doktor Goebbels, ein glänzender Rhetor und zugleich fataler Charakter. Schon damals konnten Wachsame das Element des Unredlichen in ihren Reden wahrnehmen. Man kann heute nachlesen, wie sich nicht nur Metaphorik und Wortwahl, sondern auch die demagogische Struktur i m Laufe des braunen Jahrzwölft wandelte. Manche von ihnen mißbrauchte Worte, wie „Volksgemeinschaft“, „Opfer“, „Treue“, klingen sogar heute noch schal. Rednern ist anzumerken, wie sie sich heute noch an diese Begriffe herantasten und einen neuen Umgang mit ihnen zu

BIN ICH ZUM REDNER geboren? Diese Frage legten sich einst diejenigen vor, die sich um ein Konsulat bewerben wollten. Das spielt auch heute eine Rolle. Die politischen Parteien haben für ihre Funktionäre Rednerkurse eingerichtet, und zwar bei den diversen Lehrgängen, in denen auch sonstiges Fachwissen vermittelt wird. Nachteilig wirkt sich dabei aus, daß selbst der wirklich gut geschulte Funktionär sich allmählich eine bestimmte Art der Aussprache angewöhnt. Man hört oft angelesenes Zeitungsdeutsch. ..Namens der Partei darf...“, so beginnt die Begrüßung. Früher sagte man statt „ich darf“ einfach „ich habe die Ehre“. Aber da das altfränkisch klingt, ersetzte man die leere Floskel durch eine noch leerere. Reicht heute die Macht des

Ichs nicht einmal so weit, daß man sich erkühnt, zu sagen, „Ich stelle fest“? Eine andere Redewendung ist „Ich würde sagen“. Sie besagt nicht mehr, was sie besagen sollte, nicht das Unbestimmte, das an Bedingungen Geknüpfte, nicht eigentlich den Konditionalis. Sie taucht nämlich dort auf, wo ein „Es ist so und so“ oder ein dezidiertes „Ich meine“ am Platz wäre. Hinter dem falsch angewendeten Konditionalis steckt ein Symptom der Zeit: Ängstlichkeit und Unsicherheit. Wer „ich“ meint, sollte auch „ich“ sagen und sich nicht hinter einem konventionellen „wir“ verstecken.

DIE REDNERKURSE VERMITTELN nur das handwerkliche Rüstzeug. An den Wesenskern der Sprache, an das Geheimnis ihrer Wirkung dringt man dort nicht heran. Wer sich von einem Sekretariat schließlich zu einem Abgeordneten hinaufgedient hat, ist leicht geneigt, sich als erfahrener Praktiker zu fühlen und die Theorie zu unterschätzen, die ihm deutlich macht, wie zwingend eine Rede aufgebaut sein muß, damit sie sich der geschliffenen Ironie als eines Wirkumgsmittels bedienen darf. Selten wird das Bewußtsein einer sprachlichen Verantwortung wach. Oft dient die Rede dazu, das klapprige Deutsch etwa einer Verordnung um einige Grade klappriger zu machen. Man genügt sich lind den Zuhörern vollauf, wenn man die ungefügten Substantiva immer wieder zu Bergen türmt und die Nebelschleier unklarer Begriffe um jeden Tagesordnungspunkt windet.

WIR ALLE, NICHT NUR der politische Redner, bewegen uns nicht mehr im Raum zwischenmenschlichen Verstehens, der durch Reden, Hören und Antworten umschrieben ist. Jedes dieser drei Elemente der sprachlichen Beziehung ist gestört. Wir begreifen nicht mehr, was der andere sagt, weil fertige Sprach- figuren uns ergriffen haben. Wir antworten nicht mehr, weil wir durch diese fertigen Schemata der Verantwortung dem Wort gegenüber enthoben sind. An die Stelle des Sprechens ist die Reproduktion stehender, Formeln getreten. Nichts was man hört, paßt so ganz auf die Wirklichkeit. Das Denken wird in ein Schema gepreßt, das andere entworfen haben. Man beachte etwa das sogenannte NATO-Deutsch, wie dabei etwa der wie ein permanentes Damoklesschwert drohend über der Menschheit hängende Atomkrieg systematisch verniedlicht wird. Die

Bilder von Hiroshima sollen aus dem Bewußtsein verdrängt werden. Harte Tatsachen hören sich dann so: Man redet von „atomarem Schlagab tausch“, „nuklearem Patt“, „Vorwärtsverteidigung“, „nuklearem Ernstfall“, „saiuberer Bombe“, „Atomschwelle“. Im Reiche Ulbrichts hört man von „Boykotthetze“, von „Agitprops“, die Mauer wird als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet. Das Motiv bei allen diesen Neuschöpf ungen ist klar: das der Beschönigung. Auch wer sich einem zivileren Gebiet zuwendet, kann das gleiche feststellen. Wer, statt eine Ware zu verteuern, das Preisgefüge entzerrt, den Schanknutzen anhebt, die Preise auf Verbraucherstufe bereinigt, kann auf willigere Zahler rechnen. Damit ist jedoch nur ein bescheidener Teil der schmerzhaften Blähungen erklärt, die sich unsere Sprache im Umgang mit Politikern, Verbandsfunktionären und einigen gelehrten Männern zugezogen hat. Ein Verein hat ja heute längst keine Ziele mehr, sondern Zielsetzungen. Eine Partei, die etwas auf sich hält, hat weder eine Spitze noch eine Führung, sondern selbstverständlich eine Führungsspitze. Was sind aber schon Prozesse, gemessen an justiziellen Verfahrensafoläufen, und wie dünn klingt der Ruf „Her mit dem Geld!“ verglichen mit der Unterbreitung der Forderung nach Aufstockung des Fonds X?

DASS AUCH EIN GEBIET WIE der Sport davon nicht ausgenommen ist, hat die Fußballweltmeisterschaft bewiesen. So wurde der Sport in eine Art Ersatzkrieg umgedeutet und natürlich auch das heroische Vokabular verwendet. Aus dem Wem- bley-Stadion wurde ein Kessel, aus einem abgegebenen Ba-11 eine Bombe, Granate oder ein Torpedo, aus Ver teidigern wurden Panzer und der grüne Rasen selbst zum Kampfplatz, der lädierte Spieler zum verwundeten Krieger. Fazit: das runde Leder ist endgültig zur Kugel geworden, um das sich Tommies, Iwans und Krauts schlagen.

Es gab, wie die Geschichte lehrt, Redner, die ohne besondere Bildung rhetorische Meisterleistungen erziel ten. Sie sähen dem „Volk aufs Maul“ nach Luther-Art und drückten sich knapp, präzise und einfach aus. Redner sind in der Lage, ihre Gedanken den Zuhörern in klarer und fließender Sprache wiederzugeben. Die Zuhörer werden dadurch angeregt, dem Strom der Worte so sehr zu folgen, daß sie zusammen mit dem Redner denken, erleben und fühlen. Unmöglich wird aber die Unmittelbar keit des Miterlebens beim Ablesen vom Manuskript. Zuhörer und Zuseher (wie etwa beim Fernsehen) haben einen Widerwillen gegen Abgelesenes ebenso wie gegen Auswendiggelerntes. Sie spüren instinktiv, daß der Redner zwar über eine Sache nachgedacht hat, sie aber noch nicht so weit beherrscht, daß er frei darüber sprechen kann. Churchill, einer der besten Redner Englands, verdankte seine Rednergabe der Kenntnis der alten Sprachen. Jede seiner Reden war gründlich vorbereitet, und doch verstand er es, sie so zu bringen, als seien sie improvisiert.

WAHRSCHEINLICH IST UNSERE technisch so perfekte Zeit auch für den Sprachverfall mitverantwortlich. Heute reden tagtäglich Tausende von Rednern. Der ewig rauschende Wasserfall des Wortes dringt tausendfach durch das Radio in unser Ohr. Wären Cicero, Gor- gias, Quintilian, Luther, Abraham a Sancta Clara, Fox und. Burke, Lassalle und Jaurės so berühmt geworden, wenn sie über die „Zwangsschlichtung bei Ldbnkonflikten“ und die „reduzierte Wettbewerbsfähigkeit nach neuen GATT-Zollsätzen“ zu referieren gehabt hätten? In der Re'gel ist die sprachlich zu bewältigende Materie so spröde, daß der Meißel der Sprache nicht damit arbeiten kann. So geschehen, läßt sich eine Rede gegen die „erhöhten Tarife beim Stückigutverkehr“ ungleich schwerer halten, als eine Rede auf die Gefallenen des amerikanischen Bürgerkrieges, wie sie Lincoln gehalten hat und wie sie heute noch jedes Schulkind in den Vereinigten Staaten nachplappern kann. Gewiß, auch bei uns gibt es noch gute Redner, eben deshalb sollten wir uns vor den gewissenlosen Abnützern des Wortes hüten. Aber wer kennt noch jenes Gold, das Schweigen heißt?

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