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Digital In Arbeit

Von Sprache zur Sprache

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Aus der Bereitschaft und dann aus den Versuchen entsteht ein Erlebnis- und Erkenntnisvorrat; in diesem wurzelt das Verhältnis zum Geschäft des Ubersetzens; auf ihm basieren die Fragen, die man sich bei jedem Auslaufen neu stellen muß.

Was soll ich übersetzen? Vielleicht das, was mir gefällt? Das wäre eine Möglichkeit (wenn ich für mich allein übersetze). Aber gefällt das, was mir gefällt, auch anderen? Und ist das, was mir gefällt, überhaupt von Interesse? Gewiß nicht. Es hätte eine subjektive, eingeschränkte und somit fragliche Bedeutung. Dann doch vielleicht—was allgemein gefällt? Auch das ist eine Möglichkeit. Man kann sie bei Verlagen, Zeitungen, Institutionen, aus Angebot und Nachfrage erfahren -aber welchen Wert hat noch Gefälligkeit, die allgemein geworden ist? Und welche Lebensdauer? Und welche Wichtigkeit hat es, das, was sowieso schon vorhanden, noch um ein Gleiches zu vermehren?

Ich sollte also meine knappe Zeit und meine kleine Arche wirtschaftlich nutzen, so wie es Noah tat (die Zeiten sind ja, literarisch, einer Sintflut ähnlich), ich sollte nur die einmaligen Exemplare überliefern, die für ihre Gattung stellvertretend und zeugungsfähig sind; die ihre Lebensform, ihre Entwicklungsstufe, ihre Klimazone überzeugend repräsentieren, die man als Beispiel, als Beleg — ganz gleich aus welchen Gründen: der Schönheit, der Wahrheit, der Güte - ein für allemal bewahren sollte. Auf diese Art entsteht die erste Konzeption der Auswahl.

Hat man die Wahl getroffen, erhebt sich die nächste Frage: Wie kann ich übersetzen? Ich kann natürlich immer nur eines: entweder Worte, Sätze, Gedanken oder Bilder, Stil und Poesie übersetzen. Das erste empfiehlt sich bei Texten, wo es vor allem auf die exakten Mitteilungen, also etwa bei wissenschaftlichen Texten, ankommt.

Poetische Texte stellen andere Ansprüche. Das wußten bereits die Ubersetzer vor tausend und mehr Jahren, und das hat sich bis heute kaum geändert. Aber das scheinen nicht alle zu wissen, die darüber zu urteilen haben, sonst würden sie nicht derart siegesbewußt diese zwei oder auch zehn Worte zitieren, mit denen sie „nachweisen“, der Ubersetzer habe die übersetzte Sprache mißverstanden, weil er die (zwei oder auch zehn) Worte anders wiedergegeben hat, als sie im Lexikon zu finden sind.

Zugegeben, die Fälle mehren sich, daß Leute Dichtung aus Sprachen übersetzen, die sie nicht beherrschen, daß dabei Dinge passieren, die man nicht unwidersprochen lassen darf. Aber das heißt nicht, daß ein Wörterbuch Maßstab dafür ist, ob eine Dichtung gut oder schlecht, richtig oder falsch übersetzt worden ist.

Dichtung ist übersetzbar — als Dichtung allerdings nur mit den Mitteln der Dichtung. Die Praxis belehrt jeden Ubersetzer darüber, daß die Kenntnis einer Sprache dort beginnt, wo das Lexikon aufhört, wo man das Wort zwischen den Wörtern, das unausgesprochene, das verschwiegene oder unsichtbar gemachte, das über der Satzkonstruktion schwingende hört, wo man den Gedanken, der den Vers geboren hat, der aber nicht den Worten, sondern ihrer Zuordnung zu entnehmen ist, auf die Spur kommt.

Deshalb ist die entscheidende Frage beim Ubersetzen eines Gedichts die nach seinem Gesamtwesen. Es gilt nicht zuletzt, seine

Akzente, Proportionen, die tonischen und die architektonischen Absichten zu erkennen und für diese in der neuen Sprache angemessene -Entsprechungen zu schaffen. Man kann Dichtung würdig übersetzen, wenn man zu unterscheiden weiß zwischen dem Wesentlichen und dem Beiwerk dieser Dichtung. Das erste müssen wir wiedergeben, das zweite dient uns als unerläßlicher Spielraum.

So wandelt sich zum Schluß die Fragestellung in ein Lob des Ubersetzens. Denn trotz aller Schmähungen, die dieses Geschäft erfährt, und trotz der Un-vollkommenheit, an der es leidet, hat es so viel Nutzen zu stiften und Genugtuung zu vergeben, daß es stets neue Adepten anzieht und neue Gönner herbeiruft.

So hart und vergeblich die Praxis des Ubersetzens scheinen mag, die Besessenheit erhebt sie zur Kunst, der Zweck heiligt ihre Mittel, und ihre Leistung ist ebenso unentbehrlich wie die der Wasserleitung oder die des elektrischen Stroms.

Der Autor, bedeutender Ubersetzer slawischer, vor allem polnischer Dichtung, feiert am 20. Mai seinen 65. Geburtstag.

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