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Non possumus

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Ich möchte in bezug auf eine gewisse moderne Dichtung hier jemandem das Wort erteilen, der es noch nicht gehabt hat. Es ist das Publikum, die Menschheit. Ich sehe in der Tat alle Tage, wie die Dichter, die Ästheten, Bände schreiben, in denen sie auseinandersetzen, was sie für poetisch halten. Aber ich sehe die Menschheit nicht antworten: „Das ist auch meine Ansicht von der Dichtung; hier ist das, was ich von der Dichtung verlange.“ Und dennoch hat die Menschheit eine Meinung zu diesem Thema oder doch wenigstens ein Gefühl dafür, und dies ist manchmal recht verschieden von dem des Poeten. Ich habe es unternommen, ihm Ausdruck zu verleihen. Wohlverstanden, ich spreche hier im Namen der Menschheit, die für die Dichtung empfänglich ist, sogar für eine „fortschrittliche“ Dichtung, die zahlreiche Verse von Mallarme, von Rimbaud, von Valery und von Apollinaire herzusagen weiß. (Ich sage nichts über ihren Geschmack für solche jüngsten Gedichte von Aragon und Eluard, die von Hugo oder Madame de Noailles sein könnten.) Diese Menschheit setzt nun einer gewissen modernen Dichtung, nennen wir sie zusammenfassend surrealistisch, ein offensichtliches Non possumus entgegen. Dafür möchte ich die Gründe anführen.

Ein Zug, der allem Anschein nach grundlegend für eine gewisse moderne Poesie ist und den wir nicht akzeptieren, ist ihre Unver-ständlichkeit.

Viele glauben, daß diese Dichtung das Verständliche nur ablehnt, wenn es leicht ist; daß sie es respektiert, wenn es eine Mühe mit sich bringt, deren nur wenige Auserwählte fähig sind. Das denken offensichtlich diese Auserwählten, wenn sie die kleinen Leute abtun, die derartige moderne Schönheiten nicht „verstehen“. Hier liegt ein flagranter Irrtum vor. Die Doktrin lehnt nicht nur das leicht Verständliche ab, sondern alles Verständliche, ob leicht oder nicht, weil es dem Verstand entspringt; und sie gibt vor, nur das sinnlich Wahrnehmbare zu kennen, in genau dem Maße, wie es sich davon befreit: Sie tut nicht nur die ab. welche nur Gemeinplätze verstehen, sondern alle, die zu „verstehen“ behaupten, von dem Augenblick an, in dem dieses Wort etwas anderes besagen will als die Mobilisierung von Empfindungen und in dem es die Anwendung klarer Ideen einschließt.

Gewisse Moderne weisen der Dichtung den Charakter zu, der der Unverständlichkeit benachbart ist: Sie lassen sie ausschließlich in einer glücklichen Anordnung von Worten bestehen. So zum Beispiel, wenn sie erklären: „Die Vernunft will, daß der Dichter den Reim der Vernunft vorzieht.“ (Paul Valery.) Darin liegt eine Vollendung der Verachtung des dichterischen Werkes als Gedanken, zu der sich die profane Menschheit noch nicht aufgeschwungen hat.

Das Gefühl der Kluft zwischen den meisten der gegenwärtigen Dichter und ihren Zeitgenossen empfinden wir mit aller Deutlichkeit, wenn wir eine der zahlreichen augenblicklichen Zeitschriften öffnen, die der Poesie gewidmet sind. Wir stellen fest, daß die Allgemeinheit in diesen Publikationen nicht vertreten ist, deren sämtliche Redakteure mehr oder weniger Dichter sind. Und wir ziehen uns mit dem Gefühl zurück, daß sie von Männern redigiert werden, die für sich und ihr Milieu schreiben, daß sie sich mit den Aufgaben von Spezialisten befassen und uns nicht mehr betreffen als die Bergwerkszeitung oder das landwirtschaftliche Fachblatt. Aber das ist schließlich nur ein Einzelfall in einem allgemeinen Vorgang, den Thibaudet charakterisiert, wenn er mit Mallarme nicht nur eine Literatur über die Literatur gekommen sieht, sondern eine Literatur ausschließlich für die Literaten. Der profanen Menschheit hat es übrigens deswegen nicht an Nahrung gemangelt, vor allem nicht auf dem Gebiet des Romans, wo die Werke von Mauriac, Martin du Gard, Jules Romains und sogar von Proust zum großen Teil ihr Befriedigung gegeben haben. Aber sie hat diese Nahrung im Bereich der Dichtung entbehrt, wo ich seit vierzig Jahren nicht einen Poeten von einigem Wert erblickte.

Alles Vorangehende hängt von der einen Frage ab: Gibt es eine gewisse Konstante in den Merkmalen, die die für Dichtung empfängliche Menschheit von deren Erzeugnissen verlangt, damit sie davon angerührt ist? Die gewalte Unterschiedlichkeit derer, denen dies seit dreitausend Jahren gelungen ist, scheint zu einer negativen Antwort zu berechtigen. Dennoch sehe ich am Grund einer Strophe von Archilochos oder Sappho wie am Grund aus des „modernsten“ Gedichtes, wenn es uns zu packen weiß, gemeinsame Züge. Einer davon ist die Erweckung von Vorstellungen. Der andere, daraus entstehende Zug ist der Wille, eine gewisse Einmütigkeit im Verständlichen zu erlangen. Eine Dichtung aber, die diese Bedingungen zurückweist, die mit ihrem Wort jeden Zusammenhang ablehnt, weil dieser (und das ist wahr) letzten Endes immer intellektuell ist, die für heute und morgen, wie wir gesehen haben, jede Verbindung mit der Menschheit ablehnt, die verstehen will: eine solche Dichtung dürfte, außer den übrigens zahlreichen Momenten, in denen sie ihre Aufgabe vergißt, niemanden berühren als ihre Schöpfer und deren Verschworene. Es wäre jedoch ein schwerer Irrtum, glauben zu wollen, daß diese Dichtung, weil sie nur in sich selbst lebt und jede Beziehung zur Menschheit abbricht, die Ernährerin universeller Gefühle ist, nun einem nahen und zwangsläufigen Untergang geweiht sei.

Die Mehrzahl der zeitgenössischen Poeten macht mir den Eindruck, daß sie Gedichte machen, weil ihre Epoche, wie alle Zeiten, eine solche Tätigkeit notwendig hat; was nichts zu tun hat mit der Schöpfung wahrhaft poetischer Werke.

Ich möchte noch sagen, daß ich in der Geschichte zwei Arten von Dichtern zu unterscheiden glaube: die einen machen Gedichte, weil sie Dinge von Ewigkeitswert zu sagen haben; die andern, weil alle Epochen Poeten erzeugen müssen. Die zeitgenössischen Dichter scheinen mir hauptsächlich der zweiten Klasse anzugehören.

Der Titel eines großen Dichters, mit dem einige unter ihnen begrüßt werden, läßt mich gern an ein Wort denken, das man Barres zuschreibt: „Gewisse Leute gelangen an die höchsten Stellen; nicht, weil ihr Verdienst sie dazu befähigt, sondern weil diese Stellen um jeden Preis besetzt sein müssen.“

Aus der „Revue de Paris 1946, deutsch von C. A. Weber

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