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In der Welt — über der Welt

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DEUTSCHE GEISTLICHE DICHTUNG AUS TAUSEND JAHREN. Herausgegeben von Friedhelm K e m p f. Einmalige Sonderaus gäbe, veröffentlicht im November 1962. Band 94 der Reihe „Die Bücher der neun» zehn“. Kösel-Verlag, München 542 Seiten. Preis 12.80 DM.

Die Voreingenommenheit Kierkegaard« gegen die Dichter nimmt sich eine unmusische Zeit oder ein unmusischer Mensch gern zum Alibi, sei es aus Rationalismus, sei es aus Askese. Daß sich Kierkegaard hier irreführen ließ, belastet von seiner eigenen Lebensproblematik, hat Pfeiffer sehr gut aufgezeigt. Eine Zeit, eine Gruppe von Menschen, die noch in den Ausläufern der Aufklärung befangen ist, sie nahezu anachronistisch konserviert, bedient sich allzu schnell der Kierkegaardschen Argumentierung, allerdings oft auch unter Hinweis auf gewisse Auswüchse eines artistischen Ästhetisierens, die ihnen ihr Alibi beträchtlich erleichtern. Man kann sich kaum eine gesündere Kur gegen diese verschiedenartig gelagerten Mißverständnisse wünschen als die Beschäftigung mit geistlicher Dichtung. Ebenfalls Johanne« Pfeiffer hat von der Dichtung im allgemeinen, gegen diese verschiedenen Mißverständnisse, gelehrt, daß sie den Kerngehalt menschlicher Lebenserfahrung gestaltet, klärende und tröstende Sinnbilder aufrichtet, die uns helfen, das Dasein zu bestehen, daß sie gerade das Kierke-gaardsche Anliegen erfüllt, nicht vor dem Verhältnis zu sich selbst zu fliehen und damit das Gottesverhältnis zu verdrängen; und er lehrt daher von der geistlichen Dichtung im besonderen, daß ihr geglücktes Gedicht die Spannung zwischen ästhetischer Losgelöstheit und lebensmäßiger Verwurzelung harmonisiert, indem sie eine Durchlässigkeit der sinnlichen Welt für die übersinnliche aufweist,

Hier ist das Problem aller Metaphysiker, Theologen und Dichter nicht nur beantwortet, sondern auch in geleisteter Antwort vollzogen: Wie ist ein Standpunkt über der Welt mit einem vollen ungebrochenen Leben in der Welt zu vereinen? Hier ist die Analogie des Seins nicht bloß theoretisch gelehrt, sondern praktiziert. Die Belege sind in den geistlichen Dichtungen, Kunstwerken überhaupt zu finden. Der Band „geistlicher Dichtung aus tausend Jahren“ hat damit nicht bloß literarhistorischen Wert, sondern mehr noch kunstphilosophischen, und das gerade unter dem großzügigen Gesichtspunkt seiner Auswahl.

Nicht der christliche Inhalt, nicht das christliche Motiv oder gar nur religiöse Gebrauchslyrik aus Gesangsbuch oder Liturgie sind Maßstab des „Geistlichen“, sie sind oft eng, tendenziös („vielleicht ist nirgends von Berufs wegen soviel Mittelmäßiges an Gereimtem und Sangbarem verfaßt worden“), sondern das „Phänomen der dichterischen Verwirklichung, die Forderung nach der vollkommenen sinnlichen Rede“ sind entscheidendes Kriterium der Auswahl. „Geistlich“ entspricht hier auch nicht dem Streben nach Vergeistigung, sondern dem Gebot der Durchgeistigung, Geist in Leib, Anerkennung der geschaffenen, auch materiellen Wirklichkeit, Erlösung auch des Leiblichen; Dichtung als eigengültige Gestalt, nicht bloß rationalistisches Vehikel zur Mittelung von Wahrheiten. Der Autor zielt auf die Inkar-nierung der christlichen Verkündigung im Medium der Dichtung. „Dieses gelebte Christentum, das eingesenkte, aus dem einzelnen Herzen ausblühende Wort bezeugt sich — zumindest für uns heute — nirgends nachdrücklicher als in der Dichtung.“ So entspringt die hier gebotene geistliche oder auch christliche Dichtung nicht einem Sonderbereich konfessionell gebundener Dichter und Themen, sondern der Weite menschlicher und dichterischer Leistung, auch in ihren geschichtlichen Variationen gesehen, das Sinnliche mit dem Geistigen zu verbinden, den Leib mit der Seele, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, das Diesseits mit dem Jenseits.

Die gebotenen Texte sind chronologisch geordnet, von Otfrids Evangelienharmonie bis in die Gegenwart, sind auch soweit wie möglich in ihrer Umfassung geboten. Ein geschichtlicher Überblick zur Problematik geistlicher Dichtung, ein umfangreicher Registerteil mit biographischen Angaben, Quellennachweisen, Wortcrklär-rungen und Übersetzungen helfen dem Verständnis. Und dieser Anhang zeigt, wie gründlich und solid der Herausgeber gearbeitet hat. Sicher läßt sich über jede Auswahl streiten, warum gerade dieses und nicht jenes, aber dieses unfruchtbare Renommieren hilft nichts. Jedenfalls zeugen schon die angeführten Namen, unter denen sehr seltene, nur Liebhabern bekannte zu finden sind, von der gründlichen Kenntnis des Autors und weiß er auch seine getroffene Auswahl zu rechtfertigen. Auch hier bietet sie nicht bloß literarhistorische Details an, sondern besitzt ebenso eine ästhetisch-kritische Funktion, die uns Heutigen viel zu bedenken gibt. Man kann diesem Band nur aufrichtigen Herzens — bei dem heutigen Massenangebot von Literatur ist es immer wieder eine Freude, es so uneingeschränkt tun zu können — vielen Erfolg wünschen.

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