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...nie Besitz eines einzigen Landes

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Das Englische eignet sich gerade deshalb so sehr zur Dichtung, weil in ihm so viele europäische Sprachen zusammenfließen. Das bedeutet nicht, dal) England die größten Dichter hervorgebracht hat. Ein Dichter ist dann wahrhaft groß, wenn er seine eigene Sprache voll auswertet, wenn er sie zu einer großen Sprache macht. Allerdings neigen wir dazu, jedes der großen europäischen Völker mit einer ganz bestimmten KunsHorm zu assoziieren: Italien, und später Frankreich, mit Malerei, Deutschland mit Musik, England mit Dichtung. Aber dagegen läßt sich einmal einwenden, daß keine KunsHorm je ausschließlicher Besitz eines einzigen Landes gewesen ist. Ferner hat es, zum Beispiel auf dem Gebiet der Dichtung, Pe'rioden gegeben, in denen nicht England, sondern ein anderes Land führend war. Am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts und im ersten Viertel des neunzehnten nahm die englische Romantik in der europäischen Dichtung den ersten Platz ein. Aber in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts kam der größte Beitrag zweifellos von Frankreich. Ich denke dabei an die Bewegung in der französischen Lyrik, deren Grundlage von Baudelaire gelegt wurde und die mit Paul Valery geendet hat.

Ohne diese Bewegung wäre das Werk dreier nichtfranzösischer Dichter — alle drei voneinander sehr verschieden — überhaupt nicht denkbar. Das sind Rainer Maria Rilke, der verstorbene irische Dichter Yeats und — wenn ich so persönlich sprechen darf — ich selbst. Auf sie und mich hat die französische Lyrik dieser Periode einen entscheidenden Einfluß ausgeübt. Wie kompliziert aber literarische Einflüsse sein können, zeigt die Tatsache, daß diese französische Bewegung ihrerseits einem amerikanischen Dichter irischer Abstammung sehr viel verdankt: dem Dichter Edgar Allan Poe. Und sogar dann, wenn ein Land in der Dichtung wirklich führend ist, verfügt es damit nicht unbedingt über die größten Dichter. Ich erwähnte die englische Romantik. Nun, ein Zeitgenosse ihrer Haupt-vertrefer: Wordsworth, Shelley, Keats und Byron, war Goethe. Ich weiß nicht, nach welchem Maßstab man die relative Größe von Goethe und Wordsworth als Dichter gegeneinander abmessen könnte. Aber daß Goethe der größere Mensch gewesen sein muß, beweist der ungleich umfassendere Charakter seines Gesamtwerkes. Und Wordsworth ist von den Dichtern seiner Zeit der einzige, der sich überhaupt mit Goethe vergleichen läßt.

Ich komme damit zu einer weiteren Feststellung über die europäische Dichtung. Kein Volk hätte in der Dichtung leisten können, was es geleistet hat, ohne die gleichzeitigen Bemühungen seiner Nachbarvölker und Nachbarsprachen auf demselben Gebiet. Wir können die Literatur eines Landes nicht verstehen, ohne daß wir eine ziemlich gute Kenntnis der europäischen Gesamfliteratur besitzen. Die Fäden der Dichtung spinnen sich von einem Land in das andere, verknüpfen ein Zeitalter mit dem anderen. Gewiß, es hat gule Dichter gegeben, die nur eine Sprache kannten, ihre eigene. Aber selbst sie waren zweifellos Einflüssen unterworfen, die andere Dichter vor ihnen aus fremden Sprachen empfangen und ihrer eigenen einverleibt hatten. Zweierlei ist notwendig, damit die Literatur eines Landes sich erneuern kann, damit sie neues Leben gewinnt und lernt, mit alten Worten auf neue Weise umzugehen: erstens die Fähigkeit, fremde Einflüsse aufzunehmen und zu assimilieren, dann die Fähigkeit, zu ihren eigenen Quellen zurückzufinden und aus ihnen neu zu lernen. Die erste Forderung scheint mir völlig unbestreitbar, wenn die Länder Europas geistig voneinander abgeschnitten sind, wenn Dichter nur die Literatur ihres eigenen Landes lesen, dann muß die Dichtung verkümmern. Zu dem zweiten Punkt möchte ich folgendes sagen: In jeder Literatur müssen natürlich Elemente enthalten sein, die tief in ihrer eigenen Geschichte wurzeln und daher mit ihr besonders eng verwachsen sind. Aber mindestens ebenso wichtig sind die Quellen, aus denen wir alle gemeinsam geschöpf haben: die Literatur Roms, Griechenlands und Israels.

Da es überall Menschen gibt, die sich auf die Literatur eines Landes spezialisieren, das ihrem eigenen Kulturkreis an sich äußerst iern liegt, besteht die Möglichkeit eines dauernden Kontaktes zwischen allen Literaturen der Welt. Ich möchte dies ganz besonders unterstreichen. Nichts liegt mir ferner, als zu behaupten, die europäische Kultur sei sich selbst genug. Im Bereich der Kultur gibt es und darf es keine geschlossenen Grenzen geben. Aber man kann über die Geschichte nicht hinweggehen. Die Länder, die historisch am längsten und engsten miteinander verbunden sind, haben einander auch auf literarischem Gebiet am meisten zu sagen. Die griechischen ud römischen Klassiker, die Bibel n ihren verschiedenen Ubersetzungen sind unser aller gemeinsames Erbgut.

Was ich über Dichtung gesagt habe, trifft wohl auch für die anderen Kunstformen . zu. Maler und Musiker genießen vielleicht noch größere Freiheit, da sie nicht an eine bestimmte Sprache gebunden sind. Aber im Grunde glaube ich, daß jede Kunstform in Europa auf den gleichen drei Elementen beruht: auf der heimischen Uberlieferung, der gemeinsamen europäischen Überlieferung und dem Einfluß, den ein Land Europas auf das andere ausübt. Da meine eigenen Erfahrungen sich hauptsächlich auf das Gebiet der Dichtung beschränken, mache ich keinen Anspruch auf die Allgemeingültigkeit dieser Ansicht. Doch das eine weiß ich: In der Dichtung kann kein Land'auf unbegrenzte Zeif Großes leisten. Ein Land löst als Zentrum literarischen Schaffens das andere ab. Es gibt in der Dichtung keine absolute Originalität, keine völlige Loslösung von der Vergangenheit. Die Geburt eines Virgil, eines Dante, eines Shakespeare, die Geburt eines Goethe verleiht mit einem Schlage der gesamten europäischen Dichtung ein neues Gesicht. Und =is gibt nur eine europäische Dichtung.

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