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AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN WORT

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Es gibt zwei Arten, in denen die Sprache gebraucht werden kann: als Mitteilung oder als Ausdruck. (Karl Kraus wußte um diesen Unterschied genauer als mancher andre und hat über ihn geschrieben.) Sprache als Mitteilung, das ist die Sprache, die ausschließlich den Gesetzen der Ratio, des logisch denkenden Verstandes unterstellt ist, die Sprache des Berichtes, der sachlich nüchternen und direkten Übermittlung von inneren oder äußeren Vorgängen. Sprache als Ausdruck will zwar ebenfalls etwas übermitteln oder mitteilen, aber das Mitzuteilende geht sowohl im Inhalt wie in der Form über das rational Faßliche hinaus: es handelt sich vorwiegend um inneres Erleben, in entscheidender Weise von Gefühlen begleitet, das seinen Ausdruck mit Hilfe der Sprache findet. Es soll etwas mitgeteilt werden, das sich mit direkten Worten überhaupt nicht mitteilen läßt, sondern nur mittelbar, indirekt, durch Aufzeichnung gewisser das Erlebnis andeutender, umkreisender, mehr oder minder gut eingefangener Bilder und Vorstellungen vermittelt und in empfänglichen andern erweckt werden kann.

Dieser Unterschied ist derart grundlegend und entscheidend, daß man geradezu von zwei verschiedenen Sprachen sprechen sollte: von der Sprache direkter, rationaler Mitteilung, die jedem Denkenden und Redenden zur Verfügung steht, also der Sprache im allgemeinen und alltäglichen Sinn; und der „anderen“ Sprache, der Sprache als indirekte Mitteilung, nämlich als gestalteter und verdichteter Ausdruck eines vorwiegend von Gefühlen getragenen und gesättigten Erlebnisses, der Sprache, wie sie der Wortkünstler, der Dichter gebraucht.

Der Satz: Poesie ist die Muttersprache der Menschheit, meint eben jene Sprache als Ausdruck, und deutet zugleich auf das, was diese Sprache vermitteln will: Erlebnisse und Gefühle; er weist auf das, worin sie ihre Wurzeln hat, nämlich auf jene Erlebnisfähigkeit — in einem sehr allgemeinen Sinn gesprochen —, Fühlfähigkeit des Menschen, seine Fähigkeit zur Fühlungnahme gegenüber der Welt, den Mitmenschen und den Dingen, eine Fähigkeit, in der alle Menschen übereinstimmen. Die dichterische Sprache, und das heißt praktisch immer die Gefühlserlebnisse verdichtende Sprache, ist die Ur- und Muttersprache der Menschheit.

Martin Buber hat in einem seiner grundlegenden Bücher, „Ich und Du“, von zwei Seelenhaltungen gesprochen, in denen Menschen einander gegenüberstehen können, und umschrieb die eine mit dem Begriffspaar „Ich — Es“, die andre mit „Ich — Du“. Im ersten Fall bleibt das betrachtende Ich kühl rational und der Betrachtete wird gleichsam zur Sache, zum Ding, zum bloßen 'Es, während im andern Fall die Begegnung bis zur Identifikation, zur Einverwand-lung des Ich in das Du, also zur vollen Wärme des Menschlichen mit all seinen unbegrenzten Gefühlsmöglichkeiten führt.

Der sachlich-nüchternen Ich-Es-Haltung, bei der der Mensch gleichsam von außen um das „Ding“ herumgeht, von dem er berichten will, entspricht die Sprache als Mitteilung; der Ich-Du-Haltung, bei der es zu einer Verschmelzung, einer Vereinigung und Identifikation des Ich mit dem Du kommt, entspricht die Sprache als Ausdruck.

Die Muttersprache der Menschheit ist die Poesie insofern, als sie eben jenes Ur-Erlebnis der Ich-Du-Beziehung, richtiger der Ich-Du-Identität. der Einswerdung mit dem Du vermittelt und die Einverwandlungs- und Identifikationsfähig-kei, die eigentlich erst wahrhaft humane, den Menschen erst zum Menschen machenden Erlebnisfähigkeit wacherhält. Die Dichter sind — mit den anderen Künstlern — diejenigen, die verhindern, daß die Herzen der Menschen gänzlich versteinern. Sie lehren, die Welt und die Mitmenschen nicht nur kalt rational von außen zu sehen, sondern mit der ganzen Wärme jener Erlebnisfähigkeit, die in jedem Menschen schlummert. Sie erwacht immer dann, wenn er aufhört, sich als außenstehendes Ich bewußt zu bleiben, wenn er sich selbst vergißt und, sich einverwandelnd, das Du mit all seinen Wünschen und Nöten, Sehnsüchten und Sorgen „erfährt“, „er-lebt“, womit jene eigentlich menschliche Grundhaltung erreicht wird, zu der auch jede religiöse Überlieferung den Menschen hinführen und erziehen will. Das Ziel der Religion und das Ziel der Poesie sind in einem entscheidenden Punkt gleich: beide wollen die Fühlfähigkeit, die Erlebnisfähigkeit des Menschen, die ihn als Ich wieder an das Du bindet und den in die Vereinzelung gefallenen re-integriert, also rückverbindet: wecken, wacherhalten und zu höchster, fruchtbarster Intensität entwickeln.

Paul Claudel hat die Parabel von der unglücklichen Ehe zwischen Animus, dem Verstand, und Anima, der Seele, geschrieben. Wenn sich Animus in seiner Eitelkeit und Überheblichkeit einbildet, allein alles zu sein, wird er bald daraufkommen, daß er nichts ist. — Sprache als bloße Mitteilung würde also dann zur Sprache des eitlen Animus werden, wenn sie sich einbildete, etwas über das wahre und ganze Sein aussagen zu können. Wie heißt es bei Claudel? Anima schweigt, solange Animus sie beobachtet. Aber wenn Anima sich allein glaubt, singt sie ihr geheimnisvolles Lied, das Animus vergebens aufzuzeichnen versuchen würde, und das nur die indirekten Zeichen und Bilder der Ausdruckssprache festzuhalten und zu vermitteln vermögen.

Nur die Überheblichkeit des Animus und sein Irrwahn, mit dem er ausschließlich an sich selbst und seine Einzigartigkeit glaubt, werden damit abgelehnt, also die einseitig rationale Haltung des alles andre ausschließenden Verstandes. Sie ist unfruchtbar und selbstzerstörerisch. In der Ich-Du-Beziehung der Anima wird der Mensch erst fruchtbar und schöpferisch. Sie entspricht dem, was Robert Musil den „anderen Zustand“ nannte. Alle Kunst, alle Dichtung wurzelt in diesem anderen, eigentlichen, dem Anima-Zustand des Menschen. Vermittelt wird er durch alle echte Dichtung, als deren entscheidender Inhalt.

Vernunft — das Wort kommt von „vernehmen“ — hört, im Gegensatz zum Verstand, nicht auf den Kopf allein, sondern „vernimmt“ immer gleichzeitig auch, was das Herz zu sagen hat. Neben die rational-diskursive Erkenntnis tritt die Erkenntnis durch Identifikation, durch Einswerdung. Die Erkenntnis durch Identifikation ist zugleich die poetische Erkenntnis.

Hermann Broch sprach vom „Zerfall der Werte“. Er hätte vom Zerfall des Wertes sprechen können, denn natürlich gibt es nur einen einzigen obersten Wert: den Logos, das Brahman, das Tao, das Zen, die Liebe, das „Wort“ — dessen Mehrzahl weder „Wörter“ noch „Worte“ lautet, sondern das keine Mehrzahl kennt, weil es nur das eine ewige Wort der Seele ist —, das Wort der Ich-Du-Haltung, das wundervolle Lied, das Anima singt in jenem „anderen“ Zustand der poetischen Erkenntnis.

Dieses Wort kann verlorengehen, vergessen werden — licht nur im Märchen —: das eine Stamm- und Grundwort ier Muttersprache der Menschheit. Wie viele sind unser noch, lie es auch heute vernehmen, die ihm noch zu lauschen vermögen? Ihm, dem eigentlichen „Weltgeheimnis“, von dem es 3ei Hofmannsthal heißt:

Einst aber wußten alle drum,

Nun zuckt im Kreis ein Traum herum.

Und ähnlich dichtete Franz Werfel:

Längst ist diese Glut erloschen Und des Wortes Haut liegt nackt, Ton und Reim sind abgedroschen Und die Lava ist verschlackt.

Dennoch schwebt in späten Nächten, Wenn'nichts schnattert mehr und schreit.

Wort an Wort mit Engelmächten ' n$bya\

Durch mein Zimmer, unentweiht.

Denn tröstlich weiß er:

Dinge sind vielleicht nur Zeichen, Doch das Wort ist mehr als Schein. In sein Herz hineinzureichen, Heißt der Gottheit näher sein.

Ein jüngerer Dichter, Johann Gunert, hat das gleiche Erlebnis gestaltet in den Versen vom Gesang des Vogels Gawalanga, dessen rätselhafter Ruf, wenn er nachts ertönt, alle anderen Stimmen zum Verstummen bringt:

Und es ist, als horchte er noch selber Seinem Aufschrei nach, erwacht vom Traum, . Den er lautlos fliegend durch die Zeiten Immer wieder anders träumt.

Wie viele sind unser noch, die Animas Stimme erkennen, Gawalangas Ruf noch hören? — Aber wenn keiner mehr lauschte: unvermindert bliebe trotzdem das Geheimnis selber, denn:

Stürzen wird der Mensch die alten Bilder, Aber singen wird auch künftig, Alle Zeit der Vogel Gawalanga!

Kunst kann gewiß nur sehr in Grenzen gelehrt werden, aber sie kennt einen theoretischen Teil, der dem ersten Schritt entspricht, und einen praktischen Teil der Übung — denn Kunst kommt von Können —, dem zweiten Schritt entsprechend. Wieweit aber einer den göttlichen Funken, den Genius in der eigenen Brust, von den Hemmungen seines sich immer wieder dazwischendrängenden Ichs zu befreien vermag, so daß er, der wachsen muß, sich voll auswirken kann: das hängt einzig und allein davon ab, ob einer seinem Schein-Ich zu entsinken, es zu vergessen und zu verlieren fähig geworden ist, um in der reinen Ichlosigkeit zu stehen, in der er mit dem also befreiten Genius eins geworden ist

Alle wahren Lehrmeister wußten zu allen Zeiten, daß sie mit ihren Lehren immer nur Vorläufer sein können, Vorläufer dessen, der in jedem einzelnen erst geboren werden muß. Jedes Wort, das gesprochen werden kann, ist nur ein vorläufiges vor jenem Wort, das in der Seele gesprochen werden muß. Jede Tat, die getan werden kann, ist nur eine vorläufige vor jener Tat, die in unserm Herzen getan werden muß. Es geht um eine Tat hinter allem Tun, um ein Wort hinter allem, was gesagt wird, um ein Wort, das nicht mitgeteilt werden kann, weil es selber nur schweigend in uns gesprochen wird, und das in allem, was wir auch reden mögen, zuletzt doch verschwiegen bleiben muß.

Dieses Wort, das wahre und echte Menschenwort, verlorengegangen und doch immer wieder neu gefunden in unserem Herzen, nie ganz verstummen zu lassen auf Erden, ist Sinn und Auftrag der Dichtung.

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