Ein Plädoyer für die Sprachenvielfalt

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Die EU-Osterweiterung scheint endgültig die Weichen in Richtung Englisch als EU-Arbeitssprache zu stellen. Andere Sprachen zu lernen, ist damit nicht passe.

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Die EU-Osterweiterung scheint endgültig die Weichen in Richtung Englisch als EU-Arbeitssprache zu stellen. Andere Sprachen zu lernen, ist damit nicht passe.

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Jede Erweiterung der Europäischen Union erhöht die Zahl der Sprachen. Geht man einmal von den derzeit diskutierten Varianten aus, so erweitert sich die Union um voraussichtlich zunächst fünf bis sechs, längerfristig um elf, auf dann 26 Länder mit rund 480 Millionen Einwohnern, wobei die neuen Mitgliedsstaaten elf neue Staats- und weitere Minderheitensprachen einbrächten. Damit explodiert die Zahl der Übersetzungskonstellationen: bei 11 Sprachen 110 Übersetzungskonstellationen, bei 16 Sprachen 240, bei 22 Sprachen 462.

Schnell wird mit den enormen Dolmetschkosten argumentiert; mit der Erweiterung wird sich das Problem verschärfen. Im Gegensatz zu den politischen Absichtserklärungen zeigt die europäische Realität schon jetzt Tendenzen einer sprachlichen Hegemonisierung. Längst gibt es auch innerhalb der EU Stimmen, die für eine einheitliche Arbeitssprache Englisch plädieren und entsprechende Szenarien entwickeln und die dabei mit Umfragen argumentieren, die angeblich eine relativ hohe Akzeptanz eines solchen Einheitssprachen-Modells belegen. Hier ist allerdings zu fragen, wie sich diese angebliche Akzeptanz mit der gleichzeitig sinkenden Zustimmung der Bevölkerung zur Politik der EU insgesamt wie auch speziell zur anstehenden Erweiterung verträgt. Zu fragen ist auch, wie sich solche Szenarien mit der Tatsache vertragen, dass nach der Eurobarometer-Umfrage vom Dezember 2000 47 Prozent der EU-Bürger keine Fremdsprache beherrschen und nur 41 Prozent Englisch können. [...]

Ein wenig Nestwärme Dabei - das sollte noch einmal klargestellt werden - geht es nicht darum, die Rolle des Englischen in Frage zu stellen: Englisch gehört wie der Führerschein oder die Fähigkeit, einen PC zu benutzen, zu den für möglichst jeden Bürger zu erwerbenden Grundqualifikationen. Es geht darum, ob es unausweichlich ist, dass die zunehmende Zahl der Sprachen in einer erweiterten EU als Kommunikations- und Handelshindernis gesehen wird oder ob es gelingen kann, die europäische Mehrsprachigkeit auch bei einer Zunahme der EU-Sprachen zu erhalten.

Mobilität und Globalisierung führen nicht, wie manche noch vor einigen Jahren fürchteten, zur Nivellierung sprachlicher und kultureller Unterschiede - ganz im Gegenteil: Der Musiksender MTV zumBeispiel, der ursprünglich davon ausging, seine Pop-Musik auf einem englischsprachigen Kanal weltweit erfolgreich vertreiben zu können, hat inzwischen 28 regionale Studios eingerichtet, in Europa unter anderem in Paris, Barcelona, Warschau, Rom und München: "Ein regionales Programm mit Kultur und Informationen aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit," so die deutsche Programmchefin, "spendet da ein bisschen Nestwärme ... Die eigene (im Text: deutsche) Sprache ist in dieser komplizierten Welt für manchen eine Art emotionaler Ankerplatz.''

Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass mit aufgezwungenen anderen Sprachen immer auch Tendenzen der wirtschaftlichen, militärischen oder politischen Dominanz einhergehen, die auch als ,linguistischer Imperialismus' empfunden werden.

Dieser Hegemonisierung setzen Menschen das betonte Insistieren auf der Muttersprache entgegen - das zeigt sich sogar im Internet: Zu Beginn war das Internet tatsächlich vor allem englischsprachig, doch das hat sich geändert: Einer Übersicht von Ammon entnommenen Zahlen zeigen, dass der Anteil von Leitseiten in anderen Sprachen als Englisch derart angestiegen ist, dass englischsprachige Homepages 1999 nur noch 62 Prozent gegenüber 84 im Jahr 1995 ausmachen. Der Anteil der Leitseiten auf Deutsch hat sich von 4,5 auf 13 Prozent (= 24.251.665) nahezu verdreifacht. Der japanischsprachige Anteil hat sich von 3,1 auf fünf Prozent, der französischsprachige von 1,8 auf vier Prozent 1999 verdoppelt. Selbst auf Niederländisch gibt es inzwischen knapp drei Millionen Leitseiten.

Gerade das Internet hilft, sich in seiner eigenen Sprache der ganzen Welt zu präsentieren, die eigene Sprache in die Welt hinaus mitzunehmen. Gerade die mobilen Menschen in einer globalisierten Welt legen Wert auf eine lokale, regionale oder nationale Identität. Eine europäische Identität wird nur dann akzeptiert, wenn man in dieser die eigene Sprache und Kultur wiederfindet. [...]

Internet: viel Deutsch Die europäische Welt war und ist mehrsprachig. Sogar unsere Sprachen selbst spiegeln diese Mehrsprachigkeit. Im Augenblick gibt es in Deutschland und Österreich Stimmen, die nach französischem oder polnischen Vorbild eine Reinhaltung der deutschen Sprache gegenüber Fremdwörtern fordern. Würde man alle Importe aus dem Deutschen entfernen, so bliebe nur ein kümmerlicher Rest zurück - für das Französische und Polnische gilt das in ähnlicher Weise. Die europäischen Sprachen sind bereits in sich mehrsprachig, denn sie haben zu jeder Zeit andere Sprachen aufgenommen.

Dass Mehrsprachigkeit nur ein lästiger Kostenfaktor ist, ist keineswegs ein Faktum, es lassen sich durchaus Argumente und Belege für das Gegenteil finden. Als die Daimler/Chrysler AG am 27. März 2000 die Firma Mitsubishi Motors in Japan aufkaufte, hat sie die sprachlichen und kulturellen Probleme der Fusion gewaltig unterschätzt. So schreibt "Der Spiegel" über den deutschen Manager, der für Daimler die Firmen zusammenführen sollte: "Das größte Problem war die Sprache. Er dachte, es ginge mit Englisch, merkte aber bald, dass sich jeder darin unwohl fühlte, dass die Gespräche nicht richtig gelangen. Jetzt sprechen die Japaner wieder Japanisch, der Deutsche lässt sich übersetzen." Voraussetzung dafür ist, dass sich qualifizierte Übersetzer für dieses Sprachenpaar finden ließen, das heißt, dass in diese Übersetzungskonstellation investiert wurde.

Investitionen in Sprachunterricht fließen zurück. Man kann das auch einmal anders herum rechnen: was kostet es und was bringt es ein, wenn ein Land wie Frankreich oder Ungarn oder Österreich Geld in die Vermittlung der eigenen Sprache als Fremdsprache investiert? Erfahrungen des "Institut Francais", des "Instituto Cervantes" und des "Goethe-Instituts" zeigen, was auch Tourismusexperten bestätigen, dass nämlich der Erwerb einer fremden Sprache und die Beschäftigung mit einer fremdem Kultur zu einer intensiveren touristischen Aktivität führen. Es ist davon auszugehen, dass bei einem bestimmten Prozentsatz der Kursteilnehmer, den man sehr vorsichtig mit zehn Prozent annehmen kann (bei Fremdsprachenstudierenden liegt dieser Prozentsatz erheblich höher), wegen der Teilnahme an einem Sprachkurs ein erstmaliger Aufenthalt oder ein zusätzlicher Aufenthalt im Zielsprachenland "erzeugt" wird. Es entsteht eine beträchtliche Umwegrentabilität. Eine Berechnung für die Deutschkurse des Österreich-Instituts in Polen, Ungarn, der Slowakei und Italien ergab vereinfacht ausgedrückt Folgendes: Für eigene Aufwendungen in Höhe von 13.775.000 Schilling erhielt Österreich im Jahre 2000 30.80.000 Millionen zurück. Das heißt: Für jeden im Jahr 2000 in das Österreich Institut, also in den Deutschunterricht in den genannten Ländern investierten Schilling erhielt Österreich 2,24 Schilling, also mehr als das Doppelte, als Umwegrentabilität zurück.

[...] Der Erhalt der europäischen Mehrsprachigkeit setzt voraus, dass es gelingt, trotz begrenzter Lernzeit und begrenzter Ressourcen für das Bildungswesen mit vertretbarem Finanziellem Aufwand möglichst vielen Menschen Gelegenheit zum Erwerb möglichst vieler Sprachen zu geben.

Das "System Fremdsprachenunterricht", also Bildungspolitiker, Fremdsprachendidaktiker, Sprachwissenschaftler, Lehrende ... tragen durchaus dazu bei, das Fremdsprachenlernen teuer und wenig effektiv zu machen. Damit Mehrsprachigkeit attraktiv und bezahlbar wird, müssen auch wir umdenken. Statt vieler punktueller Einzelmaßnahmen und -Projekte brauchen wir so etwas wie ein "Gesamtkonzept sprachlicher Bildung", das traditionelle Denkweisen über Sprachenlernen durchgängig in Frage stellt.

Ich illustriere das an fünf Punkten: * Diversifizierung: Der neue französische Erziehungsminister Jack Lang hat die Diversifikation im Fremdsprachenbereich zu seinem Programm erhoben, das heißt, an die Stelle der Dominanz von Englisch sollen vermehrt Wahlmöglichkeiten für die französischen Schülerinnen und Schüler zumindest bei einer zweiten Fremdsprache treten. Diversifikation setzt aber zweierlei voraus: 1. dass die Schulbehörden für verschiedene Sprachen auch kleinere Unterrichtsgruppen akzeptieren, als Lerngruppen mit fünf bis zehn Lernenden, und 2., dass die Lehrer diese Situation als Chance und Herausforderung begreifen, ein attraktives Angebot zu entwickeln und als Bestandteil europäischer Mehrsprachigkeit umzusetzen.

* Synergien nutzen - curriculare Mehrsprachigkeit: Wenn Schüler mehr als eine Fremdsprache lernen, so sollte das Lernen der verschiedenen Sprachen aufeinander bezogen sein. Der Unterricht er ersten Fremdsprache sollte das Lernen weiterer Sprache mit vorbereiten. Zum Beispiel, indem Lernstrategien für das Lernen von Wörtern, das Verstehen von Texten entwickelt werden und generell die Wahrnehmung von Sprachen trainiert wird: Der Sprachunterricht in der ersten Sprache, so drücken wir das metaphorisch aus, öffnet Fenster auf weitere Sprachen, schafft Sprachaufmerksamkeit, "language awareness".Der Unterricht in den weiteren Fremdsprachen sollte dann systematisch aufgreifen, was schon gelernt wurde. Eine Zweite Fremdsprache zum Beispiel nach Englisch sollte nicht so tun, als säßen blutige Anfänger in der Klasse.

* Kurze, intensive Sprachkurse sind besser als Langzeitangebote: Langzeitangebote wie etwa fünf Jahre Französisch oder Deutsch (und in dieser Zeit dann keine Möglichkeit, Spanisch oder Italienisch oder ganz etwas anderes zu lernen), werden dem weichen müssen, was wir das modulare Prinzip nennen: Ein intensiver Sprachunterricht muss es spätestens nach zwei Jahren erlauben, dass Wahlangebote, Kurse, Projekte oder die Verwendung der Fremdsprache als Arbeitssprache den kontinuierlichen Unterricht ablösen.

Kein Perfektionismus Attraktiver, lernwirksamer Sprachunterrricht entwickelt sich nicht mit zwei Stunden pro Woche über viele Jahre mit ewig gleichem Lektionsaufbau. Aber wer verbietet eigentlich einer Schule, den Sprachunterricht jeden Monat auf vier komplette, intensive Tage zu komprimieren und an den anderen Tagen die Fremdsprache als Arbeitssprache in anderen Fächern zu trainieren?

* Verzicht auf "near nativeness" als Voraussetzung für gelungene Mehrsprachigkeit: Schulischer Fremdsprachenunterricht hat in der Regel eine möglichst vollständige Sprachbeherrschung zum Ziel. Das heißt, er misst die Lernenden schon zu Anfang des Unterrichts vom Ende her an einer vollständigen fehlerlosen Beherrschung der Fremdsprache. Bis der Endzustand erreicht wird, gilt der Lernende als defizitär ...

Je nach Situation und Kombination verschiedener Sprachen kann es durchaus ausreichen, in einer Sprache nur Teilkompetenzen zu erwerben und auf absolute Korrektheit zu verzichten. "Sprachenteilige Gesellschaft" kann bedeuten, dass zum Beispiel jeder in seiner Muttersprache redet, die anderen die Fähigkeit des Verstehens mitbringen.

* Nicht der "native speaker", sondern der interkulturelle Sprecher ist das Ziel des Fremdsprachenunterrichts in einer mehrsprachigen Welt: Die englische Sprache wird inzwischen vielfach als "lingua franca", gelöst von einem konkreten kulturellen Kontext, gelehrt und gelernt. Für die anderen europäischen Sprachen gilt dagegen, dass sie nicht zu lösen sind von der jeweiligen politischen und kulturellen Geschichte und Gegenwart ihrer Sprecher. Es geht also nicht nur um die Fähigkeit zu grammatisch korrektem Sprachgebrauch, sondern auch um die Fähigkeit, die mit Sprache verbundenen Wertsysteme einzuschätzen, mit Missverständnissen umgehen zu können.

Damit verschieben sich Akzente im Sprachunterricht: Sprachenlernen für die eine mehrsprachige Welt heißt: Sprachenlernen für eine interkulturelle Kommunikation. Erst im Kontakt mit mehreren Sprachen lassen sich die verschiedenen Blicke der Sprachen auf die Welt zum Thema machen. Sprachunterricht hat hier gerade für junge Menschen die wichtige Funktion, Denkoffenheit zu erhalten, sie vor starrem Ethnozentrismus zu bewahren.

Thema: Vom 7. - 9. Juni veranstaltete die Österreichische Akademie der Wissenschaften" eine Tagung zum "Europäischen Jahr der Sprachen". Im Folgenden bringen wir Auszüge aus dem interessanten Vortrag, den Univ. Prof. Krumm, Germanist an der Universität Wien, im Rahmen der Veranstaltung gehalten hat.

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