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Problematische Intelligenz

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Was dem Betrachter der seit 1944/45 unter kommunistischer Herrschaft stehenden Länder Südosteuropas zunächst auffällt, ist das Fortbestehen nationaler Vielfalt. Zwar haben sich die Länder des kommunistischen Machtbereichs einander auch geistig stark angeglichen, aber die nationalen Unterschiede blieben doch bestehen. Es ist interessant, daß auch die Kommunisten in gewisser Hinsicht geschichtliche Ueber-lieferungen respektieren, wie zum Beispiel in Ungarn, wo es noch immer Straßen gibt, die nach König Stefan dem Heiligen oder nach dem Grafen Stefan Szechenyi benannt sind. Auch in Rumänien werden die großen Fürsten der Vergangenheit, wie Stefan der Große oder Michael der Tapfere, immer noch gefeiert. In Bulgarien ist den beiden Slawenaposteln Cyrill und Method der 24. Mai noch immer als Feiertag gewidmet. Selbstverständlich bemühen sich die Kommunisten, die geschichtliche und nationale Vergangenheit der Völker umzudeuten oder auszulöschen; dennoch wirken geschichtliche Erinnerungen nach und bilden eine wichtige kulturelle Realität, wie überhaupt in „Zwischeneuropa“ die nationalen Kräfte stärker fortwirken, als man dies zunächst im Westen annahm.

Der russische Einfluß auf dem kulturellen Sektor wurde, seit 1945 naturgemäß stark gefördert. Aus der politischen Abhängigkeit der südosteuropäischen Völker gegenüber Moskau ergab sich zwangsläufig eine intensive staatliche Bevorzugung Rußlands als Kulturpartner.

In Rumänien beispielsweise erreichte die Mitgliederzahl der im Jahre 1944 gegründeten Freundschaftsgesellschaft (A. R. L. U. S.) nach zehn Jahren die bemerkenswerte Zahl von 6,1 Millionen und die Zahl der Veranstaltungen 1,5 Millionen. Allein 1954 führte die A. R. L. U. S. 12.680 Kurse zur Erlernung der russischen Sprache durch. Russisch war und ist die erste Fremdsprache, es wird in allen Volksund Mittelschulen gelehrt und ist auch an den Hochschulen obligatorisch. Trotzdem hat es den Anschein, als ob der russische Einfluß seit etwa 1953'54 in den südosteuropäischen Ländern zurückgeht. In Ungarn fällt die Abnahme der russischen Kulturbeziehungen besonders auf, aber auch in den anderen Satellitenländern läßt sich ein ähnlicher Prozeß beobachten. Neben den russischen Filmen werden auch westliche gespielt. In Ungarn schrumpft der früher übliche „Monat des Sowjetfilms“ zu einer „Sowjetfilmwoche“ zusammen; die Abneigung des Publikums gegen russische Filme führte zu einer ziemlichen Begrenzung der Zahl dieser Filme.

Noch deutlicher ist der Rückgang an Uebersetzungen aus dem Russischen. Während 1950 in Ungarn die Zahl der aus dem Russischen übersetzten Bücher noch 874 (16,8 v. H. der Gesamterzeugung) betrug, ging sie 1955 auf 504 (3,1 v. H. der Gesamterzeugung) zurück. In Bulgarien wurden 1951 insgesamt 49, 1953 insgesamt 69, 1956 insgesamt 87 schöngeistige Bücher aus dem Russischen übersetzt; 1957 (bis Dezember) waren es jedoch nur 40 Bücher.

Auf der anderen Seite ist zu beobachten, daß die deutsche Sprache in den letzten Jahren wieder in den Vordergrund rückte. Das mag mit den Wirtschafts- und Kulturbeziehungen zusammenhängen, die das Pankower Regime seit 1949 mit den südosteuropäischen Ländern aufnahm und immer weiter ausbaute, aber es drückt sich in der Neigung der südosteuropäischen Völker zur deutschen Sprache hin auch ein verwurzeltes kulturhistorisches Moment aus. Nach Ueberwindung der 1945 und in den darauffolgenden Jahren vorherrschenden, von den Kommunisten zum Teil künstlich aufgeputschten deutschfeindlichen Ressentiments, gewinnt das traditionelle Interesse an der deutschen Kultur wieder die Oberhand. Am auffälligsten hat sich Deutsch als Fremdsprache in Jugoslawien durchgesetzt, allerdings erst nach dem Bruch Titos mit dem Kominform. Im Schuljahr 1950/51 waren die fremden Sprachen in den, Belgrader Schulen folgendermaßen vertreten: Französisch 40 v. H., Russisch 39 v. H., Deutsch 11 v. H„ Englisch 10 v. H. Im darauffolgenden Jahr: Französisch 55 v. H., Russisch 12 v. H., Englisch 11 v. H., Deutsch 10 v. H. Im Schuljahr 1952/5 3: Französisch 52 v. H., Russisch 1 v. H., Englisch 21 v. H., Deutsch 26 v. H. Diese Entwicklung zeigt ganz deutlich ein drastisches Absinken des Russischen als Fremdsprache und ein Anwachsen des Deutschen; die französische Sprache hält nach wie vor die Spitze. ~1 I

Aus Ungarn erfährt, man, daßQ sich im; Janner 1957 in den Oberklassen der Volksschulen 90 v. H., in den höheren Schulen 60 v. H. der Schüler für Deutsch als Fremdsprache entscheiden. Seit der Wiederherstellung des zwangsweisen russischen Sprachunterrichts ist das Deutsche allerdings wieder etwas zurückgegangen. Immerhin liegt Deutsch unter den westlichen Fremdsprachen im Schulunterricht an erster Stelle. Auch in Rumänien und

Bulgarien hat sich die deutsche Sprache im Schulunterricht gut behauptet.

Das Bildungswesen in den kommunistisch regierten Ländern Südosteuropas zeichnet sich durch eine enorme quantitative Ausweitung aus; qualitativ hat es allerdings manche Mängel. Das Schwergewicht liegt auf den technischen Fächern — eine Begleiterscheinung der forcierten Industrialisierung und Technisierung, die ihrerseits wiederum die rasche Heranbildung von Ingenieuren und technischen Beamten erfordert. Die kommunistischen Länder sind gezwungen, mehr Intelligenz als bisher zu „produzieren“, wobei freilich festgestellt werden muß, daß es sich weniger um Akademiker im herkömmlichen Sinne als um Spezialisten handelt. Bezeichnend war die weitgehende Einschränkung der Gymnasien zugunsten technischer Fachschulen, ein Prozeß, der übrigens in letzter Zeit in einigen Ländern verlangsamt wurde. So ergaben sich beispielsweise in Ungarn Unterbringungsschwierigkeiten für die enorme Zahl neu ausgebildeter Ingenieure, die in vielen Fällen mit untergeordneten Stellungen vorliebnehmen mußten. Es zeigte sich, daß der Prozeß der Industrialisierung weit hinter der forcierten Heranziehung einer neuen technischen Intelligenz zurückhängt. Es zeigte sich auch eine andere Tatsache: daß nämlich der „proletarische Nachwuchs“ nicht den Erwartungen entspricht, die man auf ihn setzte. Die kommunistische These von den Begabungsreserven in der sogenannten proletarischen Schicht hat sich in manchen südosteuropäischen Ländern als ein Trugschluß erwiesen. Ein Beispiel dafür liefern die sogenannten Abendschulen in Rumänien und Bulgarien, deren Aufgabe es ist, den „proletarischen Nachwuchs“ heranzuziehen, deren Absolventen aber fast durchweg nur die Note 3 erzielten, die zum Besuch der Universität noch nicht ausreicht. Offenbar sind in der „proletarischen Nachwuchsschicht“ weder ausreichende Intelligenz noch entsprechende Ambitionen vorhanden.

Diese Feststellungen ändern jedoch nichts an der Tatsache, daß die kommunistischen Regierungen energische Bemühungen unternommen haben, die Volksbildung im allgemeinen zu heben. Volksschulen und Kindergärten haben an Zahl beträchtlich zugenommen und das Analphabetentum wurde weitgehend beseitigt. Auch die Zahl der Büchereien nahm stark zu. Bulgarien besaß 1951 insgesamt 4024 Büchereien, 195 5 waren es bereits 5612 und in Rumänien soll es 1957 insgesamt 40.000 Büchereien gegeben haben, wie offiziell berichtet wird. In Ungarn standen, ebenfalls nach offiziellen Angaben, 1949 nur 500.000 Bände in den Dorfbüchereien zur Verfügung; deren Anzahl ist bis 195 5 auf insgesamt 4,1 Millionen angewachsen. Allerdings darf man nicht übersehen, daß die in den Büchereien der Dorfbevölkerung zur Verfügung gestellten Werke vorwiegend politischer und ideologischer Natur sind, und aus den Klagen der Presse über das zu geringe Interesse der Bevölkerung geht hervor, wie wenig die Aufnahmebereitschfeft der Leser mit der Vermehrung der Bücherbestände und Büchereien Schritt hielt. Wenn sich etwa in Rumänien die „Volksdemokratische Front“ in einer Verlautbarung vom 20. Jänner 1957 rühmte, daß es im Lande 12.000 Kulturheime und rund 30.000 Laienkünstlergruppen gebe und daß 1956 insgesamt 35 Millionen Bücher gedruckt wurden, so wird man die quantitative Bedeutung dieses Bemühens nicht verkennen wollen, man wird sich aber darüber im klaren sein, daß an diese Zahlen nicht westliche Qualitätsmaßstäbe gelegt werden dürfen.

Das Volksbildungswesen dient letzten Endes auch der leichteren propagandistischen Durchdringung der Massen, während die Pflege der Wissenschaften ernsthafter zu werten ist, obgleich die „nützlichen“ Wissenschaften im Vordergrund stehen, so vor allem die Medizin, die Naturwissenschaften und die technischen Wissenschaften. Die eigentlichen Kulturwissenschaften sind weniger gefragt, ausgenommen zum Beispiel die Slawistik, die ausgesprochen bevorzugt wird. Gefördert wird ferner die Vor- und Frühgeschichte, die Volkskunde und Folkloristik. Geschichte und Literaturwissenschaft hingegen treten an Bedeutung zurück, ausgenommen die Geschichte der Arbeiterbewegungen, die gegenüber der objektiven Geschichtsforschung dominiert.

Die Zahl der Studenten ist seit 1945 sprunghaft angewachsen. In Rumänien gab es 1938 insgesamt 26.489 Studenten, 1956 waren es 81.206; in Ungarn 1938 insgesamt 11.747, 1956 insgesamt 40.754; in Jugoslawien 1938 17.475 und 1956 insgesamt 62.423.

Die Zahl der Universitäten wurde im allgemeinen nicht wesentlich erhöht. In Jugoslawien bestanden früher die Universitäte Belgrad, Agram, Laibach und Skopje. Inzwischen sind neue Universitäten in Sarajewo und Neusatz entstanden. In Rumänien wurde in Klausenburg neben der rumänischen Staatsuniversität eine madjarische Universität gegründet, eine weitere rumänische Universität in Temeschburg. Eine geradezu unvorstellbare Anzahl von Einzelfakultäten und Fachhochschulen kennzeichnen die heutige Situation. So gibt es in Ungarn eine Hochschule für fremde Sprachen, für Tierarznei, für Forstwesen, ja sogar eine Hochschule für Rechnungskunde, die leitende Buchhalter, Statistiker und Planungsangestellte ausbildet. Am weitesten ist man aber in Rumänien gegangen, wo es Fakultäten für Kraftwagen, Traktoren, Technologie des Erdöls, für Straßen und Brücken, für Lebensmittelindustrie und sogar eine Fakultät für Fußpflege gibt. Daß diese Entwicklung einen pseudoakademischen Nachwuchs schuf, den man mit westlichen Maßstäben höchstens als Fachschulabsolventen bezeichnen kann, liegt auf der Hand.

Bildungswesen und Kulturpflege zeigen in den südosteuropäischen Ländern zweckbestimmte Tendenzen, die dem politischen Nutzen untergeordnet sind. Auch das Kunstwesen läßt diese politische Zweckbestimmung erkennen, abgesehen vielleicht von der Musik. In der Literatur beginnen sich allerdings nonkonformistische Kräfte zu regen, die die sterilen Formen des sogenannten sozialistischen Realismus zu sprengen bemüht sind. Die Bemühungen zu einer Reform der schabionisierten kommunistischen Literatur mußten notwendigerweise zu ideologischen Auseinandersetzungen führen, die schließlich in einer Opposition gegen das Regime ausmündeten.

Die kulturpolitischen Probleme Südosteuropas seit 1945 ergaben sich aus der zunehmend sichtbarer werdenden Diskrepanz zwischen sterilem Formalismus und ideologischem Zwang einerseits und aus dem tiefen, letzten Endes national verankerten Bedürfnis nach größerem geistig-kulturellen Spielraum. Die nach 1945 künstlich herangezüchtete Intelligenz offenbart sich als ein Faktor, der keineswegs unproblematisch dem kommunistischen Regime zur Verfügung steht, sondern nach neuen Wegen und Entfaltungsmöglichkeiten strebt. Das aber macht deutlich, daß die Kulturpolitik im kommunistischen System vor krisenhaften Entwicklungen steht.

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