7214959-1992_45_23.jpg
Digital In Arbeit

Von der neuen Mauer zwischen Ost und West

Werbung
Werbung
Werbung

„Ost - West, zwei Sprachen, eine Literatur?" war das Thema einer kürzlich abgehaltenen Tagung des Bundesverbandes deutscher Autoren in Berlin. Neben Repräsentanten aus Österreich und der Schweiz waren-auch Autoren aus der CSFR, aus Estland, Indien, Israel, Lettland, Polen, Rumänien, Rußland und Ungarn eingeladen.

Wie vorauszusehen war, konnte die Frage nicht schlüssig beantwortet werden, vor allem nicht im Hinblick auf die neuere deutsche Literatur, da die deutsch sprechenden oder nur mehr deutsch schreibenden Autoren auf den Inseln ihrer Minderheiten jahrzehntelang von der Entwicklung im Westen abgeschnitten waren. Und heute kann sich kaum mehr jemand den Kauf eines Buches leisten.

Sehr schnell rückten die Bedingungen, unter denen Schriftsteller in ehemals kommunistischen Ländern leben, schreiben und veröffentlichen können, in den Brennpunkt des Interesses, und zwar nicht nur seitens der

Tagungsteilnehmer, sondern auch des Publikums bei den späteren Autorenlesungen. Die Literatur selbst kam zu kurz.

Besonders verbittert zeigten sich die Schriftsteller aus der einstigen DDR. Nach 40 Jahren sozialer Sicherheit in einem Staat, der ihnen die Abnahme ihrer systemkonformen Bücher garantierte, fühlen sie sich plötzlich dem rauhen Wind der freien Marktwirtschaft ausgesetzt, verunsichert und im Stich gelassen. Man wird ihnen und vielen anderen brotlos gewordenen Menschen behutsam heifen müssen, ihre Orientierung wiederzufinden, allerdings ohne „Wes-si"-Arroganz, über die sie klagen. Nicht nur arbeitslose Jugendliche, auch gedemütigte Intellektuelle stellen ein nicht unerhebliches Konfliktpotential dar.

So sieht Helmut Britz aus Bukarest (er gibt eine deutschsprachige Literaturzeitschrift mit 300 Abonnenten im Westen heraus) die Situation seines Landes, in dem die Siebenbürger seit 750 Jahren Kolonisten, aber nie Kolonialherren gewesen sind. Seit die BRD ihre Auswanderung ermöglicht hat - die Kehrseite der deutschen Ostpolitik -, leben in den Städten und Geisterdörfern nur mehr 100.000 Menschen, von denen nur ein Prozent an Literatur interessiert ist. Man wird jetzt daran gehen zu dokumentieren, was der Zensur während der letzten zehn Jahre zum Opfer gefallen ist und die literarische Gattungsvielfalt sichten, die jetzt aus den Schreibtischladen hervorgeholt wird.

Wesentlich erfreulicher stellte Johann Schuth aus Budapest die Verhältnisse in Ungarn dar: Da Russisch kein Pflichtfach mehr ist, ist die Nachfrage nach Deutsch als Lerngegenstand steigend, und man interessiert sich auch für deutschsprachige Rundfunk- und Fernsehsendungen. Junge Autoren orientieren sich heute aber nicht mehr an deutschen Dichtern wie Nikolaus Lenau oder Thomas Mann, sondern vermehrt an Weltliteratur.

Erschreckend trist ist die Lage in Rußland. Aus den Ausführungen von Waldemar Weber aus Moskau - er wurde 1944 als Sohn von deportierten Wolgadeutschen in West-Sibirien geboren und hält im laufenden akademischen Jahr an der Grazer Universität Vorlesungen über die Wechselbeziehungen zwischen Deutschen und Russen - ging hervor, daß 80 Prozent der Rußlanddeutschen ihre Muttersprache vergessen haben. Daß es dennoch, und ohne Deutschunterricht in der Schule, (junge) deutsche Autoren gebe, sei ein Phänomen. Auch die deutsche Sprache nimmt an Bedeutung zu - die Russen haben keine Ressentiments - und Germanistik wie Lektoren sind hochqualifiziert.

Solchen positiven Aspekten steht jedoch die katastrophale Wirtschaftslage gegenüber: Weder deutsche noch russische Literatur kann aus Geldmangel verlegt werden, noch kann man sich den Kauf deutscher Bücher leisten, und die einst preisgünstige DDR-Literatur wird nicht mehr angeboten. Auch für Übersetzungen ist kein Geld vorhanden. Die russischen Bibliotheken sind zwar reich an deutscher Literatur, doch gehen die Bestände kaum über Klassiker und die Exilliteratur aus den vierziger Jahren hinaus. Das erkläre auch, sagte Weber, daß die zeitgenössische deutsche Literatur in Rußland eher konservativ geblieben sei. Das wird sich vermutlich auch nicht so bald ändern, denn „heute regiert der Kommerz und damit billiger Schund". Ähnlich wie in Rußland, nehme auch der Einfluß der deutschen Sprache auf Studierende und Lehrende in Polen zu, so daß Deutsch als Fremdsprache heute vor Englisch liege, erklärte eine Autorin aus Polen.

In Estland und Lettland hingegen führt die deutsche Sprache hur mehr ein Schattendasein auf universitärem Boden, scheint es, denn es gibt Autoren, die deutsch schreiben, obwohl es nicht mehr ihre Muttersprache ist. Wo aber finden sie einen Verleger? Falls der Schein nicht trügt, befindet sich die deutsche Sprache im Osten im Aufwind. Doch es wird viele Jahre dauern, bis die in vielen Jahrzehnten entstandene Kluft zwischen Ost und West überbrückt ist, denn die Menschen „drüben" erfahren die Welt noch immer zweigeteilt - durch ein „Hungertuch".

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung