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Die Freude an der Normalität

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Ein Gespräch mit den prominentesten ungarischen Schriftstellern über ihre Situation und die ungarische Literatur heute.

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Ein Gespräch mit den prominentesten ungarischen Schriftstellern über ihre Situation und die ungarische Literatur heute.

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Etwa seit Mitte der 80er Jahre fand am deutschen Buchmarkt ein großer Durchbrach ungarischer Literatur statt: György Konräd, Peter Esterhazy, Istvan Eörsi, Miklos Meszöly, György Dalos und in den 90er Jahren dann Imre Kertėsz, Peter Nädas, Laszlo Krasznahorkai oder der Lyriker György Petri seien als „große Namen“ genannt. Der Eindruck einer Eruption entstand jedoch nur für den deutschsprachigen I^eser, handelte es sich doch durchwegs um Autoren, die in Ungarn schon lange veröffentlichten, auch wenn einzelne jetzt im deutschen Sprachraum bekannter sein mögen (Dalos) und mehr Lesungen haben als zu Hause. Erst Mitteleuropa-Euphorie und Osteuropa- Boom nach 1989 haben den Eisernen Vorhang unseres Bewußtseins für die ungarische Literatur geöffnet.

Doch während der etwa gleichzeitige Boom rassischer Literatur in deutschen Übersetzungen tatsächlich etwas aussagt über neue Möglichkeiten des Schreibens und der Veröffentlichung im Ursprungsland, ist 1989 für die ungarische Literatur kein Wendepunkt in inhaltlicher oder stilistischer Hinsicht. Verändert hat sich die wirtschaftliche Basis der Autoren, aber auch die Funktion der Literatur, wie Peter Esterhazy im Gespräch darlegt:

„Die Literatur war sozusagen der einzige Ort, wo man an die verlorene Freiheit erinnern konnte. Literatur hat also gesellschaftliche Aufgaben auf sich genommen, wobei sie sie natürlich nicht lösen konnte. Diese Aufgaben sollte nicht der Schriftsteller lösen, sondern der Leser; es waren Aufgaben für die Gesellschaft. Die Literatur war also sehr wichtig, denn die Leser, die zwischen den Zeilen lesen konnten, kamen auf ihre Kosten. Damit ist es natürlich zu Ende, denn jetzt haben wir ein Parlament. Aber das ist nicht schlecht so. In Ungarn haben wir jetzt eine drastische Umstrukturierung der Literatur: Die Li

teratur ist tatsächlich unwichtig; diese Unwichtigkeit hat ihre Wichtigkeit, ihre Rolle. Und es war sehr unnatürlich, daß sich Staatsmänner mit Gedichten beschäftigt haben, das ist pervers. Blaustrümpfe müssen sich mit Gedichten beschäftigen, und nicht Stalin und seine Kollegen.“

Anders als in den übrigen kommunistischen Ländern hat die Literatur in Ungarn zumindest seit den 70er Jahren in relativer Freiheit existiert. 1968 wurde György Dalos zu siebenmonatiger Haff verurteilt, aber das war auch einer der letzten politischen Prozesse. Freilich gab es Schikanen — nicht nur Peter Nädas weiß davon zu berichten: Totschweigen, Aufführung an kleinen Theatern, das Spiel mit der Papierknappheit.

In den 80er Jahren waren Massenalkoholismus, Prostitution und Drogen keine Tabuthemen mehr — selbst aufgeklärte Gruppen der Macht hielten es für günstiger, offen darüber zu reden. Und die Verpflichtung auf „sozialistischen Realismus“, ein verordnetes Literaturkonzept mit Diffamierung „bourgeoiser“ oder „dekadenter“ Literatur, eine Zensur in formaler und stilistischer Hinsicht spielte keine Rolle mehr. Unter diesem aufgeklärten Totalitarismus ist eine bedeutende und sehr heterogene Literatur entstanden.

György Konräd, Imre Kertėsz oder György Dalos stehen für den wichtigen Beitrag jüdischer Autoren zur ungarischen Literatur. Unter ihnen ist Imre Kertėsz der Autor des Jahrhunderttraumas Auschwitz. Etwa 560.000 Menschenleben forderte der Holocaust in Ungarn - einer der großen Lyriker des Jahrhunderts war unter ihnen: Miklos Radnoti, der bei Györ, nahe der österreichischen Grenze, begraben ist.

Noch 1975 wurde der erste Roman von Imre Kertėsz, dem Übersetzer von Nietzsche, Freud, Hofmannsthal und Canetti, „Mensch ohne Schicksal“, an dem er seit 1961 gearbeitet hatte, totgeschwiegen. Er hat diese Erfahrung später im Roman „Fiasko“ (1988) verarbeitet. Mit „Kad- disch für ein nicht geborenes Kind“

(1992) wurde er im Westen bekannt; damit hat er seine Trilogie der „Schicksalslosigkeit“ beendet. 1993 sind seine Aufzeichnungen aus 30 Jahren unter dem Titel „Galeerentagebuch“ erschienen. Über seine Literatur sagt Kertėsz:

„Ich bin der Überzeugung, daß wir, wie Hermann Broch geschrieben hat, in einer Zeit ohne Stil leben. Das bedeutet, wir haben keine gültigen Symbole, keinen gültigen Mythos. Ich bin überzeugt davon, daß Auschwitz ein gültiger Mythos für heute ist. Kunst heute kann überhaupt nicht gültig sein, ohne deklariert mit Auschwitz zu tun zu haben, aber unbewußt, als Hintergrund. Darum bin ich kein Auschwitz- oder KZ-Exper- te, ich bin zuerst Künstler, und auch mein erster Roman ist kein autobiographischer Roman; natürlich habe ich viele Dokumente dazu gelesen. Es ist ein objektiver Roman, das heißt, es ist die Sprache, die ich erdacht, erfunden habe, um über die Greueltaten nicht nur von Auschwitz, sondern auch über Stalinismus und über unser Leben überhaupt zu schreiben.“

Daß wir erst langsam ein Bild der ungarischen Gegenwartsliteratur gewinnen, zeigt schon die Tatsache, daß „Mensch ohne Schicksal“ noch gar nicht auf deutsch erschienen ist.

Im September haben die Österreichische und die Ungarische Akademie der Wissenschaft in Wien eine Tagung über „Die Sicht des arideren in der österreichischen und ungarischen Literatur veranstaltet, und György Dalos, der in Wien lebt, hat im Schauspielhaus ein dreitägiges Symposion ungarischer Literatur mit interessanten Autoren und Übersetzero organisiert. Sein Ziel war:

„Ich wollte hier demonstrieren, daß es eine Kontinuität gibt, daß die Literatur ‘- trotz enormer Schwierigkeiten und trotz der panischen Ängste der ersten Jahre nach der Wende … wieder zu einer Normalität gefunden hat — einer Normalität, die im Grande nichts mit Kapitalismus und Sozialismus zu tun hat, sondern mit dem ureigensten menschlichen Bedürfnis nach Kommunikation.“ Dalos hat in seinen Romanen „Die Beschneidung“ und „Der Versteckspieler“ das Judentum in Un-

gam thematisiert. Er zeichnet folgendes Bild: „Wir müssen sagen, daß in Ungarn das größte Judentum Mitteleuropas lebt: 120.000 Menschen sind Juden, wenn auch nur etwa 20.000 in der Gemeinde sind. Das bedeutet andererseits, daß es in Ungarn aber nie eine spezifisch jüdische Kultur gab, sondern nur eine ungarische Kultur mit sehr vielen Juden, denn die ungarische Kultur hatte eine enorme Assimilationsfähigkeit. Es gibt fast nichts im 20. Jahrhundert, was nicht mit irgendwelcher jüdischen Beteiligung entstanden wäre, aber paradoxerweise ist das nicht jüdisch, sondern ungarisch. Im heutigen Ungarn gibt es keinen Antisemitismus in größerem Ausmaß. Was es gab, war eher ein künstlich geschaffener Haß von politischen Gruppen, die sich zum Glück bei den letzten Wahlen als Randgruppen entpuppten, und zwar mit Istvan Csurka, (fern ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter und jetzigem Rechtsradikalen an der Spitze, leider auch mit dem ehemaligen Schriftsteller, denn Csurka war kein schlechter Schriftsteller — vor etwa 15 Jahren.”

György Konräd, der internationale PEN-Präsident, dessen Essay „Antipolitik“ die politische Wende vorweggenommen hat, las in Wien aus einem unveröffentlichten Roman. Im Gespräch beschrieb er die Situation der ungarischen Literatur:

„Wir haben jetzt eine ziemlich bunte Literatur. Das literarische Leben ist interessant geworden - wir haben die größte Zahl von literarischen Zeitschriften in Europa - mindestens 70 Zeitschriften veröffentlichen Literatur. Das Verlagswesen ist natürlich nicht so großartig, aber es gibt schon etwa 20 neue Verleger, die gute Literatur herausgeben. Natürlich sieht man auf der Straße überall diese Tische mit Schundliteratur - das ist auch eine Folge der Veränderungen.“

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