Földenyi - © Foto: Privat

László Földényi: „Seither nie wieder“

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International geschätzt, Auftrittsverbot in den regierungsnahen ungarischen Medien: Ralf Leonhard sprach mit László Földényi über Melancholie und Minderwertigkeitskomplexe.

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International geschätzt, Auftrittsverbot in den regierungsnahen ungarischen Medien: Ralf Leonhard sprach mit László Földényi über Melancholie und Minderwertigkeitskomplexe.

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László Földényi ist jemand, dem man stundenlang zuhören kann. Der 1952 geborene ungarische Essayist, Kunst theoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer hat sich auch über die Geschichte seines Landes den Kopf zerbrochen. Er hat über den deutschen romantischen Maler Caspar David Friedrich geschrieben, über Kleist, Kafka und den ungarischen Philosophen György Lukács. Trotzdem hat er in den regierungsnahen Medien seines Landes Auftrittsverbot. Unausgesprochen, aber effektiv. „Ich bin vor 2010 regelmäßig im Rundfunk zu verschiedenen Themen eingeladen worden, meist Kunst und Literatur, nicht Politik. Seither nie wieder.“ 2010 wurde der nationalkonservative Viktor Orbán Premierminister. Die Freiheit der Medien steht seither nur mehr auf dem Papier. Redakteure, die die falschen Leute zu Wort kommen lassen, müssen um ihren Job fürchten. Anderswo sieht man Földényi als intellektuelle Lichtgestalt. So wird er nun mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet.

Ich bin vor 2010 regelmäßig im Rundfunk zu verschiedenen Themen eingeladen worden. Seither nie wieder.

László Földény

Auch in Zeiten des kommunistischen Regimes war Földényi zu Hause nicht wohlgelitten. Den Fall der Berliner Mauer erlebte er als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Westberlin. Seither ist er ein oft und gern gesehener Gast. „Földényis Ideologieresistenz lässt sich unschwer als Reaktion auf das kommunistisch indoktrinierte Leben in Ungarn deuten“, sagte die Laudatorin Ilma Rakusa 2005 anlässlich der Verleihung des Friedrich­Gundolf­Preises: „Die Ungeschütztheit jedoch, mit der er seine Studien betreibt, die in summa als ungeschriebene Autobiographie gelesen werden könnten, zeugt von einem existentiellen Ernst, der immer aufs neue beeindruckt und berührt.“

Feinsinnige Essays

„Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“, für das Földényi ausgezeichnet wird, ist eine Sammlung feinsinniger Essays, die mit Reflexionen über Kindheitserinnerungen in einer Leichenhalle beginnen, eine fiktive Begegnung zwischen Albrecht Dürer und dem italienischen Maler Giorgione imaginieren und dann einen rätselhaften steinernen Polyeder in Dürers Grafik „Melencolia“ aus dem Jahr 1514 in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellen. Da ist es nicht weit zu Stanley Kubricks Film „2001: Odyssee im Weltraum“, in dem ein Stein im Weltall eine wiederkehrende Rolle spielt.

Der Dürer’sche Polyeder taucht auch fast 500 Jahre später wieder auf, nämlich im Gemälde „Drei Frauen“ des deutschen Künstlers Anselm Kiefer, das drei griechische Vordenkerinnen darstellt: die Dichterin Myrtis sowie die Mystikerin Candidia und die Philosophin Hypatia, die beide ermordet wurden, letztere Ende des 4. Jahrhunderts von einem aufgehetzten christlichen Mob in Alexandria. Alle drei sind bei Kiefer kopflos, Hypatia trägt anstelle des Hauptes den Polyeder aus der „Melencolia“. Földényi will die Melancholie nicht auf die Depression reduziert sehen: „Melancholie ist ein viel weiterer Begriff, der in der europäischen Tradition oft auch mit Kreativität, Genialität, geistiger Größe verbunden war. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte man das unbedingt medizinisch zu begreifen.“

Die Ungarn, die der französisch­rumänische Philosoph Emile Cioran gemeinsam mit den Portugiesen und den Russen als die drei melancholischen Nationen Europas einstuft, sieht der ungarische Intellektuelle eher als frus trierte Nation: „Diese Frustration kommt aus der Geschichte der letzten Jahrhunderte. Melancholie ist etwas anders, die kann man nicht mit der Geschichte erklären, das ist eher ein existenzieller Begriff. Ich würde ihn nicht auf Nationen ausbreiten.“ Seit dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert hätten die Ungarn meistens nur Niederlagen erlitten: „Wir waren immer eine besetzte Nation: von Tataren, Türken, Habsburgern, Deutschen, Russen. Ungarn hat nie eine richtige Selbständigkeit erlebt.“ Im Friedensvertrag von Trianon 1920 nahmen die Siegermächte Ungarn zwei Drittel des Territoriums weg.

Der dadurch erzeugte Phantomschmerz wird von nationalistischen Politikern wie Viktor Orbán geschickt ausgeschlachtet. Deswegen fürchtet Földényi, dass die Gedenkfeiern im kommenden Juni zu einer chauvinistischen Veranstaltung verkommen: „Fast fünf Millionen ethnische Ungarn leben heute in anderen Ländern, das sind halb so viele wie innerhalb der Grenzen. Es gibt keine Familie, die nicht direkt von diesem Verlust betroffen worden wäre, meine eigene eingeschlossen. Sie musste aus der heutigen Ukraine flüchten.“ Dazu kommt, dass unter den verlorenen Gebieten die bürgerlich entwickelten besonders fehlten, nämlich die Slowakei und Siebenbürgen: „Wir wurden zu einem richtigen Agrarland. Insofern bleibt da ein Verlust und ein Schmerz.“ Orbán, der schon zweimal im Amt bestätigt wurde, sei so erfolgreich, weil er den Minderwertigkeitskomplex seiner Landsleute nähre: „Du hast sonst nichts, aber du bist Ungar.“

Orbán profitiere nicht nur vom weltweit grassierenden Populismus, sondern verstehe sich als Vater­ und Führerfigur zu inszenieren, die die Ungarn brauchen. „Ungarn hat nie eine demokratische Verfassung gehabt und war immer ein feudalistisches oder halbfeudales Land, das von oben regiert wurde.“ Und Orbán habe früh erkannt, „dass es einen Bedarf an solchen Figuren gibt und da es kurz nach der Wende eine Leerstelle gab, war er der Schnellste, der in diese Rolle schlüpfte.“

Auswanderungsproblem

Ungarn als die ethnisch homogenste Nation Europas sei vom Misstrauen gegenüber allem Fremden beherrscht. Deswegen funktioniere auch die hermetische Abschottung gegenüber Flüchtlingen so gut. In Wahrheit habe das Land aber kein Zuwanderungs­, sondern ein Auswanderungsproblem: „Eine halbe Million ist aus Ungarn weggegangen. Das sind vorwiegend Leute, die etwas wollen und voll mit Zukunftsplänen sind. Gerade diese Leute könnten wir sehr gut brauchen. Sie fehlen der ungarischen Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt.“ Das könne jeder beobachten, der das marode Gesundheitssystem beanspruchen muss. „Wenn jemand ins Krankenhaus kommt, freut er sich nicht mehr über die vielen Fußballstadien, die Orbán gebaut hat, sondern ärgert sich, dass er Monate auf eine Operation warten muss.“ Die Ausgewanderten fehlen aber auch der Opposition, die gegen die plumpen Parolen des Premiers noch kein Gegenmittel gefunden habe.

Mit latentem Antisemitismus und dumpfem Nationalismus werde auch eine „patriotische“ Kulturpolitik betrieben. So wurde in den neuen Lehrplänen der Nobelpreisträger Imre Kertész als Pflichtlektüre durch zwei Schriftsteller aus den Vierzigerjahren ersetzt. Albert Wass war ein bekannter Antisemit, József Nyirő ein Pfeilkreuzler. Beide, so Földényi, hätten „drittklassigen Heimatkitsch“ geschrieben. Wie bei anderen Reformen auch habe es darüber keinen Dialog gegeben: „Dinge werden ohne Rücksprache mit den Betroffenen beschlossen. Ohne demokratische Kultur gibt es auch keinen normalen Dialog, nur Misstrauen.“

Földenyi - © Foto: Privat

László Földényi wird mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet. Aufgrund der coronavirusbedingten Absage der Leipziger Buchmesse war zu Redaktionsschluss noch offen, wie und wo er den Preis erhält.

László Földényi wird mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet. Aufgrund der coronavirusbedingten Absage der Leipziger Buchmesse war zu Redaktionsschluss noch offen, wie und wo er den Preis erhält.

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