In Verteidigung von Visegrád

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Tschechien, Slowakei und Ungarn und Polen haben sich bei einer Quotenregelung der EU am vehementesten quergelegt. Was sind die Gründe dafür? Ein Kommentar.

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Tschechien, Slowakei und Ungarn und Polen haben sich bei einer Quotenregelung der EU am vehementesten quergelegt. Was sind die Gründe dafür? Ein Kommentar.

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Die 1991 geschlossene Allianz der damals drei, heute vier mitteleuropäischen Staaten ist im Bewusstsein der Österreicher kaum vorhanden und erregt auch in ihren Mitgliedsländern meistens nur durch Fotos von den regelmäßigen Gipfeltreffen Aufsehen. Anlässlich der aktuellen Flüchtlingskrise, die im Dreiländereck von Österreich, Ungarn und der Slowakei eskaliert ist, war der lose Zusammenschluss jedoch plötzlich in aller Munde.

Dies galt zunächst für die Teilnehmerstaaten selbst, die mit Ausnahme Ungarns von der Flüchtlingsproblematik bis dahin nicht unmittelbar betroffen waren. Mit einem Schlag wurde auch den Regierenden in Prag, Pressburg und Warschau bewusst, dass bei einer Quotenregelung in der Flüchtlingsverteilung auch sie verstärkt zur Kassa gebeten und bei der Aufnahme von Flüchtlingen mit Widerständen in der Bevölkerung konfrontiert werden könnten.

Parteipolitische Divergenzen - in Tschechien und der Slowakei sind sozialdemokratische Ministerpräsidenten am Ruder, in Polen und Ungarn liberal- beziehungsweise nationalkonservative - traten zurück gegenüber gemeinsamen Interessen.

Róbert Fico und Viktor Orbán, die wegen der ungarischen Volksgruppe in der Slowakei miteinander im Dauerclinch liegen, waren sich in dieser Frage einig: Quoten, danke, nein!

Aktion und Rektion

Dies wiederum sorgte vor allem in Deutschland und Österreich für heftige Gegenreaktionen, die dann in die Visegrád-Länder und von diesen nochmals zurückschwappten. Kritisierten die alten EU-Länder die mangelnde Solidarität und den wirtschaftlichen Egoismus der vier EU-Länder, so kamen in den neuen ähnlich wie in der Griechenlandkrise alte Ressentiments gegen die Bevormundung vor allem durch Deutschland hoch.

Erstaunt stellte man fest, dass neben messbaren Parametern wie Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung noch andere Dimensionen zu berücksichtigen wären.

So wetterte der stets lustvoll irrlichternde Václav Klaus wieder einmal gegen "alle verrückten utopischen Ideologen von Marx bis Merkel", die ein "neues Europa und einen neuen europäischen Menschen schaffen wollen".

Bei seiner Polemik gegen Schengen und den Euro kam der tschechische Altpräsident auch um das deutsche Fremdwort "zglajch altování" (Gleichschaltung) nicht herum. Zugunsten der Niederschrift seiner sofort von Zehntausenden seiner Anhänger gelikten Anti-Immigrations-Petition habe er sogar überlegt auf seine Tennis-Stunde zu verzichten, stehe doch "die Zukunft der europäischen Zivilisation" auf dem Prüfstand, so Klaus im Interview mit dem Magazin Tiden (Die Woche).

Was kann Visegrád?

Die vier "halböstlichen oder halbwestlichen Länder aus Europas Mitte" würden das Steuer freilich nicht herumreißen, so der 74-Jährige in seiner Analyse der Visegrád-Vier, wenngleich Orbán und wohl auch Fico in dieser Frage "resolut" seien. In Polen gebe der neue, erst 43-jährige katholisch-nationale Präsident Andrzej Duda zwar Anlass zu einiger Hoffnung, doch sei das Land durch die Debatte um Russland geblendet. Und die Tschechen gingen vor Brüssel ohnehin letztlich in die Knie, die ebenfalls quoten-skeptischen baltischen Staaten schon im Vorhinein.

Es fällt nicht schwer, in der Klaus'schen Diktion die Muster der tschechischen Polemik in der Donaumonarchie wiederzuerkennen.

Ein Gleiches gilt jedoch für die Reaktionen in Österreich. Ebenfalls im Bewusstsein, eine moralisch unanfechtbare Position zu vertreten, wird in den einstigen Erblanden die Nationalismuskeule geschwungen. Hinter der Ablehnung des Nationalismus der Tschechen, Polen, Slowaken und Ungarn (in all den unterschiedlichen Nuancen und Konstellationen) verbirgt sich jedoch der Hochmut der einst herrschenden Deutschen und deren Kränkung durch die Staatswerdung der nachgeordneten Völker.

Ob man es nun will oder nicht - die Staatsdoktrin aller vier Visegrád-Staaten ist ohne das Phänomen des Nationalismus nicht zu erklären. Die Tschechische Republik ist ein Ergebnis der Emanzipation von den Deutschen, jene der Slowakischen von den Ungarn, jene der Polen von den Deutschen in Österreich und im Deutschen Reich sowie von Russland. Wie, unter welchen Umständen und in welchem Ausmaß sie vollzogen wurde, steht auf einem anderen Blatt, das ebenfalls nüchtern zu betrachten ist.

Nüchternheit gefragt

Sachlich zu beurteilen ist auch das Verhalten der Visegrád-Gruppe in der Flüchtlingskrise. Am besten zu studieren ist dies an Ungarn. Wenn Außenminister Péter Szijjártó erklärt, Ungarn sei "ein tausend Jahre alter Staat, der entlang seiner Geschichte oft nicht nur selbst, sondern auch Europa verteidigen musste", so ist durchaus zu fragen, ob das historische Argument zu Recht benützt wird oder ob es etwas anderes -etwa eine fragwürdige Auffassung von Demokratie -zudeckt. Aber ein Faktum ist, dass es in der aktuellen politischen Debatte eine Rolle spielt.

Es ist unklug, Viktor Orbán voreilig zum Faschisten zu stempeln, wenn seiner autoritär geführten Fidesz die tatsächlich rechtsextreme Jobbik auf den Fersen ist; oder den Populisten Róbert Fico, wenn es in Banská Bystrica tatsächlich einen faschistischen Landeshauptmann gibt. An der Quotendebatte - am EU- wie am Visegrád-Bashing - war wieder einmal abzulesen, wie wichtig ein langfristig und daher nur von politischen Profis zu leistender Dialog zu führen ist. Damit auch in den Visegrád-Staaten den Anwälten der Menschlichkeit der Rücken gestärkt wird.

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