Warten auf ein Signal der Europäischen Union

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Als Bestätigung ihres Reformkurses erhofft sich die Slowakei vom EU-Gipfel im Dezember in Helsinki ein Signal aus Europa: die Aufnahme in die erste Gruppe der Beitrittswerber.

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Als Bestätigung ihres Reformkurses erhofft sich die Slowakei vom EU-Gipfel im Dezember in Helsinki ein Signal aus Europa: die Aufnahme in die erste Gruppe der Beitrittswerber.

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Politisch hat sich die Situation in der Slowakei nach der Abwahl von Vladimir Meciar und dessen "Bewegung für eine Demokratische Slowakei" (HZDS) im September des Vorjahres durchaus im Sinn der EU-Vorstellungen verändert. Der neue Regierungschef Mikulas Dzurinda wird - anders als der als autoritär, nationalistisch/populistisch eingestufte Meciar - im Westen als Demokrat akzeptiert. Gleichwohl steht sein aus sehr unterschiedlichen Parteien gebildetes Koalitionskabinett auf recht wackeligen Beinen.

Denn die Slowakei steckt in argen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Das Wirtschaftswachstum hat sich dramatisch gegen Null verlangsamt, die Arbeitslosenrate nähert sich 20 Prozent, die Inflation liegt bei 13 Prozent.

Westliche Wirtschaftsfachleute sind sich einig, daß die rigorosen Spar- und Sanierungsmaßnahmen für die Slowakei schlicht "unerläßlich" waren und nach einer Phase strikter Austerity-Politik mittelfristig wieder eine rasche Aufwärtsentwicklung zu erwarten ist. Doch gilt das - wie ein Experte formuliert - nur, "wenn es der Slowakei gelingt, die erforderlichen Restrukturierungs-, Sanierungs- und Sparmaßnahmen durchzuhalten". Was in den Sternen steht, jedenfalls aber durch das erhoffte Signal aus Europa erleichtert würde. Denn es wäre ein Anerkennung des eingeschlagenen Weges durch die EU. Und es böte der Bevölkerung, die die Belastungen bisher mit großer Geduld trägt, eine Perspektive.

Die Slowakei ist - nach der Trennung von Tschechien am 1. Jänner 1993 entstanden - der jüngste der ehemals kommunistischen Reformstaaten. Sie gehört mentalitätsmäßig zu dem, was man die mitteleuropäische Küß-die-Hand-Zone bezeichnen könnte. Und sie hat - wen wundert's angesichts ihrer Geschichte jahrhundertelanger Bevormundung beziehungsweise Unterdrückung durch andere Völker? - ihre Identität noch nicht hundertprozentig gefunden. Ausgeprägte Minderwertigkeitskomplexe - "Ich bin ein Slowake, aber ich kann es Ihnen erklären" - sind hiefür ebenso typisch wie gelegentlich hochfahrender Nationalismus und trotzige Rechthaberei. Kenner der slowakischen Sprache versichern, das Slowakische habe mehr Worte für Zank und Streit als jedes andere Idiom. Was vielleicht auch erklärt, warum in der Politik so heftig gestritten wird und der für eine funktionierende Demokratie wichtige, weil unverzichtbare Grundkonsens oft kaum zu sehen ist.

Die Sorge, ausgegrenzt und/oder benachteiligt zu werden, ist dagegen häufig zu spüren. Beispielsweise brachte der englischsprachige "Slovak Spectator" Anfang September Reportagen über den "Kulturschock", den Slowaken zu erleiden hätten, wenn sie von ausländischen Botschaften Visa haben wollten. Eine Mitarbeiterin des "Spectator" berichtete, wie sie Anfang der Neunzigerjahre erst nach einer "demütigenden Tour durch die Botschaft" zu einem britischen Visum kam: "Ich fühlte mich schrecklich, wie eine Nummer in der Lotterie." Die Demütigung sitzt offenbar tief: "Nach Jahren des Schlangestehens um Bananen zu Weihnachten in der Zeit des Kommunismus, finde ich mich jetzt wieder in Menschenschlangen, die sich vor Botschaften in Wien, Prag und Budapest um Visa anstellen. Das war nicht der Punkt, nicht das Ziel, frei zu werden. Wird der nächste Schritt die Visapflicht für die Europäische Union sein?"

Hintergrund solcher Ängste sind Spekulationen, angesichts von Asylansuchen von Angehörigen der Roma-Minderheit in Großbritannien und in skandinavischen Staaten, somit könnte es im gesamten Schengen-Raum zu einer Visapflicht für Slowaken kommen. London hat Einreisebeschränkungen bereits eingeführt; Finnland und Norwegen verfügten die Visapflicht. Eine wachsende Zahl an asylsuchenden Roma könnte nur zu leicht zu einem Erdrutsch gleicher Maßnahmen in anderen Staaten der EU führen.

Zehn Prozent Roma In der Tat stellt die triste Situation der Roma-Minderheit ein Problem von großer politischer Sprengkraft dar. Allerdings nicht nur für die Slowakei, sondern auch für andere Länder - Rumänien, Tschechien, Ungarn - und letztlich für ganz Europa, wo 1995 etwa 8,5 Millionen Roma lebten. Für die Slowakei weisen die offiziellen Zahlen bei einer Gesamtbevölkerung von 5,4 Millionen 1,6 Prozent Roma aus. Tatsächlich aber liegt deren Zahl weitaus höher. Alle ernsthaften Schätzungen lauten auf eine halbe Million und mehr - was einem Bevölkerungsanteil von zehn Prozent entspricht. Die soziale Lage der Roma-Minderheit ist schlimm: Arbeitslosigkeit, Analphabetismus, Armut, Kriminalität, Alkoholismus und eine extrem hohe Geburtenrate von durchschnittlich acht Kindern (!) pro Familie.

Die Spannungen zwischen rasch wachsender "schwarzer" Minderheit und "weißer" Mehrheit sind unleugbar und entladen sich mitunter in tödlichem Haß. Zuletzt wurde im August ein junger Roma in einer Polizeistation bei einem Verhör wegen eines angeblichen Fahrrad-Diebstahls angeschossen. Er starb wenig später. Die Polizei sprach von einem Unfall sowie davon, daß sich der Mann selbst mit der Waffe verletzt habe ...

Die slowakische Regierung hat einen eigenen Beauftragten für Roma-Angelegenheiten bestellt. Auch wurden erste Projekte zur Verbesserung der Lage der Roma auf den Weg gebracht. Sie verfolgen über Bildung und Ausbildung die Zielsetzung einer Integration der Minderheit. Doch das Roma-Problem hat eine Größenordnung erreicht, die von der Slowakei allein kaum bewältigt werden kann. Nach übereinstimmender Auffassung vieler Beobachter ist hier Europa zu gemeinsamer Anstrengung gefordert.

Zwei ethnische Gruppen, die in der Vergangenheit eine große Rolle spielten, gibt es fast nicht mehr in der Slowakei: die Juden und die Deutschen, die einen in die nationalsozialischen Vernichtungslager deportiert, die anderen nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben. Der Verlust an Kreativität und Intelligenz, an Fleiß, Tüchtigkeit und Schaffenskraft, der so entstand, ist kaum zu ermessen. Ebenso wie die geistig-moralischen und auch materiellen Schäden, die die kommunistische Diktatur verursacht hat, die vierzig Jahre das Land beherrschte.

Dennoch ist die Slowakei ein schönes, abwechslungsreiches, interessantes Land, das dem Besucher viel zu bieten hat, der sich auf eine mitteleuropäische Erkundung in ein zwar nahes, aber wenig bekanntes Land begibt. Die Landschaft entfaltet sich von Süden nach Norden: von den Tiefebenen am Ufer der Donau über die Mittelgebirge bis zu den Gipfeln der Hohen Tatra. Im ganzen Land findet der Besucher Kunstdenkmäler von Rang, meist sorgsam restauriert; selbst in kleinen Dorfkirchen stehen Meisterwerke der bildenden Kunst, die den Vergleich mit anderen europäischen Ländern nicht zu scheuen brauchen.

Das gilt insbesondere für die Zips, die - am Fuß der Hohen Tatra gelegen - wie Preßburg ein Zentrum deutscher Besiedelung war. Und ebenso wie in Bratislava stößt der Besucher in den Städten der Zips, in Levoca (Leutschau), in Spisska Sobota (Georgenberg), das heute in Poprad (Deutschendorf) eingemeindet ist, in Spisska Nova Ves (Zipser Neudorf) und in Kezmarok (Käsmark) auf die Spuren dieser Vergangenheit. Lange Zeit war es eine gemeinsame Vergangenheit: in der Monarchie, die wohl nicht der "Völkerkerker" war, als der sie von späteren Agitatoren verleumdet wurde. Wie man beispielsweise im Rathaus von Levoca sehen kann, wo im Ratsherrensaal - flankiert von Porträts von Maria Theresia und Josef II. - ein Bild hängt, das Ratsherren mit erhobener Schwurhand zeigt, die auf die göttliche Mahnung hin: "Habt Gerechtigkeit lieb, ihr Regenten auf Erden!" feierlich geloben: "So wahr mir Gott helffe und sein heiliges Wort."

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchie trennten sich die Wege Österreichs und "Oberungarns", das als Slowakei zu einem Teil der Tschechoslowakei wurde. Was damals und seither geschah, fand seinen Niederschlag auch in den Namen vertrauter Plätze. So wurde in Käsmark aus dem "Platz der Königin Elisabeth" - in Ungarn war Kaiserin Sissy bekanntlich sehr beliebt - der "Masaryk-Platz", benannt nach Thomas Garrigue Masaryk, dem ersten Präsidenten der Tschechoslowakei.

Von Hlinka zu Stalin In der ersten Slowakischen Republik - im März 1939 auf Druck Hitlers geschaffen - wurde der "Masaryk-Platz" zum "Andrej-Hlinka-Platz", benannt nach dem katholischen Priester Andrej Hlinka (1864-1938), der mit seiner Slowakischen Volkspartei nicht für einen eigenen slowakischen Staat eingetreten war, wohl aber vehement "nationale Autonomie für die Slowakei" und stärkere Berücksichtigung slowakischer Belange in der tschechoslowakischen Politik gefordert hatte. Hlinka, unter den Kommunisten verfemt, steht in der heutigen Slowakei wieder hoch im Kurs - in Zilina (Sillein) sogar auf dem Sockel eines Denkmals, das ihm zu Ehren neu errichtet wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Hinrichtung von Jozef Tiso, der den slowakischen deutschen Vasallenstaat geführt hatte, wurde der "Andrej-Hlinka-Platz" auf Betreiben der Kommunisten zum "Stalin-Platz". Er blieb es nicht sehr lange, bis er - nach Chruschtschows Abrechnung mit dem Stalin-Kult - zum "Platz der Sowjet-Armee" mutierte. Der von Panzern des Warschauer Paktes 1968 niedergewalzte Versuch des gebürtigen Slowaken Alexander Dubcek, als erster Sekretär des Zentralkomitees der CSSR-KP, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen, führte zu einer neuerlichen Umbenennung: der "Platz der Sowjet-Armee" wurde für kurze Zeit zum "Alexander-Dubcek-Platz".

Heute ist es auch damit vorbei. Doch bleibt die Möglichkeit, daß der Platz im Falle einer gemeinsamen Zukunft in der Europäischen Union nochmals - und dann hoffentlich zum letzten Mal - umbenannt wird: vom "Hauptplatz" zum "Europa-Platz".

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