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Das Armenhaus Slowakei wurde zur Großbaustelle

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Bedeutende Entwicklungen in der ČSSR gipfeln traditionellerweise in einem Witz. Und dies hier ist einer der neusten: Ota trifft František auf dem Prager Wenzelsplatz. „Wie geht es dir, du siehst gut aus“, sagt Ota. Darauf Frantisek: „Ich habe hier eine neue Stellung.“ - „Was für eine?” - „Ich bin Slowake in Prag!“

Der Nationalitäten-Proporz treibt denn auch tatsächlich Blüten, die manchen Tschechen verunsichern. Für die Prager Zentralministerien, die Institute und Behörden, ist er Wirklichkeit geworden: Ist der Abteilungschef Tscheche, muß sein Stellvertreter Slowake sein, oder umgekehrt.

• Die Föderalisierung der CSSR, ein wesentliches Anliegen des Prager Frühlings, wurde in der neuen Verfassung schon vor der sowjetischen Invasion festgelegt - schließlich war ja Dubček Slowake. Zwei Monate nach der Invasion wurde die Verfassung im Parlament verabschiedet und Dub- čeks Nachfolger, der Slowake Gustäv Husäk, setzte sie in Kraft. Er folgte dabei einer weit zurückreichenden Planung Moskaus, das eine Lösung der „slowakischen Frage“ schon zu Novotnys Zeiten urgiert hatte, damit aber auf taube Ohren gestoßen war. Am Ende der Novotny-Ära, als man sich im Kreml .über die weitere Entwick- lüng der ČSSR nicht ganz klar war, kursierten sogar Gerüchte, die von einer Abtrennung der Slowakei sprachen. Denn die Slowaken stünden ethnisch und mental den Russen näher als die Tschechen.

Inzwischen hat das einstige „Armenhaus“ der Republik, belastet durch eine fast tausendjährige Vergangenheit unter ungarischer Herrschaft und seinen vorübergehenden Status als deutscher „Schutzstaat“ nach dem Münchner Abkommen, kräftig aufgeholt und dies nicht nur, was den Ämterproporz angeht.

Neben Prag erreicht Preßburg das höchste Bautempo in der ČSSR. Südlich der Donau erheben sich die hohen Wohnblocks der Petržalka, eines neuen Stadtviertels, in dem bis 1990 mehr als 150.000 Menschen leben sollen. (1945 gab es in ganz Preßburg weniger Einwohner als dann in diesem auf dem Reißbrett entstandenen Viertel leben werden.) Eine neue Donaubrücke ist ebenfalls in Planung. Übrigens: Den Ruhm, die größte slowakische Stadt zu sein, beanspruchte bis zum Krieg die US-Industriemetro pole

Chicago, klassisches Zentrum slowakischer Emigranten.

Der sechste Fünflahresplan macht klar, wie die fünf Millionen Slowaken gegenüber den doppelt so zahlreichen Tschechen bevorzugt werden. Während in Böhmen und Mähren Sozialprodukt und Industrieproduktion bis 1980 um 24, respektive 30 Prozent angehoben werden sollen, lauten die entsprechenden Werte für die Slowakei 36 und 44 Prozent.

Die Slowaken besitzen eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament In der Nationalitätenkammer des gesamtstaatlichen ČSSR-Parlaments stellen sie die Hälfte der 150 Delegierten, in der Volkskammer ein Drittel. Uberrepräsentiert ist die slowakische Minderheit im (Gesamt-)Parteipräsi- dium der KPČ. Vier von zehn Mitgliedern sind Slowaken, unter ihnen Staats- und Parteichef Husak, und Moskaus Vertrauensmann Vasil Bilak.

Ist diese Aufwertung der Slowaken allein auf die verfassungsmäßige Basis zurückzuführen? Diese ist gewiß eine wichtige Komponente. Mindestens ebensoviel Gewicht aber hat die Tatsache, daß in den kritischen Tagen des Jahres 1968 im slowakischen Landesteil viel weniger Unruhe und Erbitterung gegenüber den sowjetischen Okkupanten zu bemerken war, als etwa in Prag. Die erwähnte ethnische und sprachliche Nähe zu den Russen und vor allem zu den Ukrainern verschafft den Slowaken im Kreml, wo man auch heute noch den volksgruppenmäßigen Prinzipien der zaristischen Außenpolitik folgt, einen gewissen Vertrauensvorschuß. Und davon kann man, wie die Slowakei demonstriert, auch ganz gut leben.

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