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Geschichte im Dienst der Gegenwart

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Die bedeutendsten Geschichtsforscher unseres' nördlichen Nachbarlandes waren im Oktober in Prag zum zweiten tschechoslowakischen Historikerkongreß versammelt. Auf der Tagung — die, wie aus den Berichten der unterschiedlichen Prager Blätter zu erkennen ist, beachtliche Höhe hatte —, wurde die Bedeutung der Sozialgeschichte besonders unterstrichen. Mit Bedauern wurde festgestellt, daß die Geschichtsforschung die Erscheinungen des Kapitalismus in der Arbeiterbewegung erst zur Kenntnis genommen habe, nachdem sie bereits entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung des gesamten öffentlichen Lebens gewonnen hatten. Hart prallten auf dem Kongreß oft die Meinungen der drei Richtungen aufeinander, der marxistischen, der realistischen im Sinne Masaryks und der konservativ-idealistischen, symbolisiert durch den Namen P c k a r. So lebhaft auch die Diskussion geführt wurde, so wurde doch von allen Seiten begrüßt, daß man eine offene Auseinandersetzung einem seichten Kompromiß vorgezogen hatte. Die Grenze zwischen wissenschaftlichem Vortrag und politischer Rede verschwamm lediglich in dem Referat von Minister Zdenek Nejedly über die „Oktoberrevolution und die slawischen Völker“. (Nejedly ist Professor für Musikgeschichte, wurde 1945 Unterrichts-ministcr und leitet jetzt das Sozialministerium.) Als Aufgabe für die nächste Zukunft stellten sich die Teilnehmer die Veröffentlichung der Quellen zur neuesten Geschichte, vor allem der Dokumente der Demokratie, die Entwicklung der Arbeiterschaft, der Geschichte von Wirtschaftsunternehmungen und der Entwicklung der Preise und Löhne. Ergebnis der Debatte war unter anderem auch der Antrag, einen Lehrstuhl für das Studium des Lebenswerkes T. G. Masaryks zu errichten. Weit einseitiger erfolgte die Behandlung des tschechisch-slowakischen Problems, mitbedinte-t wohl durch das Fernbleiben einer offiziellen slowakischen Vertretung. Das Hauptreferat Professor Cha-loupeckys über diese Frage beklagte ein mangelndes tschechoslowakisches Geschichtsbewußtsein in der Slowakei. Unter anderem wurde gegen die kritische Darstellung der

Hussitenkriege auf slowakischem Boden Stellung genommen, wie sie Alois Jiräsek in seinen historischen Romanen zeichnet.

Ein voller Tag war dem deutschen' Problem gewidmet, wobei man sich daran erinnerte, daß beim letzten tschechoslowakischen Historikerkongreß vor zehn Jahren die Deutsdien noch teilnahmen. An den Vortrag des Prager Stadtarchivars Dr. Voj'ti'sek über den Kampf um die böhmische Geschichtsauffassung zwischen Tschechen und Deutschen (von Höfler bis Bret-holz), schlössen sich Einzeldarstellungen, unter anderem über die Vorgeschichte (Filip), das Verhältnis der böhmischen Länder zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Mittelalter (Van£cek), die Hussitenkriege (Bares), den deutschen Kultureinfluß (Grund und Matejcek) und die Lage zur Zeit der katholischen Reformation (Kalista), wobei vor allem die universalistische Auffassung der katholischen Kultur anerkannt wurde, innerhalb derer das Deutschtum vorwiegend eine Vermittlerrolle zu erfüllen hatte.. Die Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert behandelte Professor Bauer, der der saturierten Konzepte — der immer schon auch das Wort von Blut und Eisen prägte und die verhängnisvolle Vatikanpolitik gegen die Polen im Osten des Reidies einleitete — Bismarcks den uferlosen Imperialismus Wilhelms II. entgegenstellte. Im Anschluß daran wurde der sehr beachtliche Ruf nach einer Geschichte des deutschen Volkes laut, die, vom tschechischen Standpunkt aus verfaßt, für die ganze Welt, vor allem den Westen, bestimmt sein soll. Man fühlt wohl nach dem Geschehenen das Bedürfnis einer recht-* fertigenden Erklärung von Ereignissen, die kein Beispiel in Mitteleuropa haben.

Die Tagung ließ erkennen, daß gegenüber religiösen Fragen heute jenes “blinde Unverständnis, wie ei noch 1918 auffiel, nicht mehr zu bemerken ist, in erster Linie freilich wohl deshalb — wie ein tschechischer Kritiker feststellte —, weil jene extremen Richtungen heute „ein anderes Betätigungsfeld“ gefunden haben. Minister Ripka unterstrich in seinem Referat über die tschechische DerhoKratie sogar ausdrücklich den Anteil des tschechischen Katholizismus an der Demokratisierung des tschechischen . Volkes. Zwei Vorträge (Charvat und Popel) befaßten sich mit Geschichtsauffassung und dialektischem 'Materialismus. Der Materialismus müsse als Aufgabe, nicht als Dogma aufgefaßt werden.

Von aktueller Bedeutung war schließlich die Themenstellung „Unser Land zwischen Ost und W e s t“; dabei gelangte man zu dem trotz seiner vorsichtigen Formulierung befremdenden Ergebnis, Böhmen könne zu keiner Zeit als Vermittler oder Kreuzungspunkt zwisdien dem Osten und Westen bezeichnet werden, da Osten und Westen keineswegs feststehende Begriffe, sondern entsprechend der geänderten politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung wandelbar seien.

(Quellen: „Svobodn£ slovo“, „Pravo lidu“, „Lidovä kultura“ und „Katolik“.)

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