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Sorgen der westslawischen Wanderungen

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Die Wanderung der Westslawen m die von den Deutschen geräumten Gebiete jenseits der Oder und in den böhmisdien Ländern, neigt sich ihrem Ende zu. Mit einer in der neueren Geschichte des Abendlandes unerhörten Wucht und beispiellosen Härte vollzog sich die Enteignung und Ausweisung von mehr als 10 Millionen Reichs- und Volksdeutschen, und der Ubergang ihres Besitzes an 3,6 Millionen Polen, 2 Millionen Tschechen, V* Million Slowaken. Außerdem tauschten Vi Million Ukrainer aus Südostpolen und fast 30.000 Weißrussen ihr Eigentum mit Polen aus den an die Sowjetunion abgetretenen Provinzen östlich der Curzon-Linie, während sich ein ähnlicher Vorgang zwischen je einer Vi Million Slowaken aus Ungarn und Ungarn aus der Slowakei im Wege eines Austauschabkommens abspielte. Nach vorsichtiger Schätzung hat diese Völkerverschiebung nur im Räume zwischen Ostsee und Karpathen mindestens 15 Millionen Menschen erfaßt. Sie wurden binnen zwei Jahren aus dem organischen Zusammenhang ihrer nationalen und regionalen Gesellschaftsstruktur gerissen und in eine völlig neue und nahezu willkürliche Zusammenballung von Menschen und Dingen geworfen. Eine solcherart amorphe Masse wird nur künstlich von einem dünnen Gerippe des staatlichen Verwaltungsapparats zusammengehalten.

Die Praxis der anderen, der westslawischen Seite, hat gezeigt, daß es nicht genügt, Neusiedler in menschenleere Gebiete zu führen, ihnen Wohnung, Land, Arbeitsplätze zuzuweisen und Theater, Kinos und Schulen zu eröffnen, auch wenn es sich um sonst national einheitlich ausgeriditete Einwanderer handelt. Die Verpflanzung von Millionen Menschen an einen fremden Ort ist vielmehr ein Ereignis, das an die Wurzel der gesellschaftlichen Bindungen überhaupt rührt und deshalb weittragende kulturelle und soziale Fragen zur Lösung aufgibt. Relativ rasch wurde der Übergang zur neuen gesellschaftlichen Einheit der Menschen in historisch klar ausgewogenen Räumen, wie es die böhmischen und mährisdh-schlesischen Randgebiete sind, erzielt, wo der Kontakt zwischen den Neusiedlern und dem kompakten Kern ihres Volkes im I andesinneren nicht zerriß und der Siedlungsakt gewissermaßen als Expansion in ein künstlich geschaffenes Vakuum erschien, das verkehrstedinisch, wirtschaftlich und kulturell dem Tschechen immerhin schon vorher vertraut und nahe gewesen war. Dennoch treten in diesen Räumen sehr ernste Fragen auf, die“ in naher Zukunft ihre Lösung verlangen.

Die Besiedlung der ehemals ostdeutschen Provinzen durch die Polen riß einen noch riesigeren Komplex von Problemen gesellschaftlicher Natur auf, an dessen Verarbeitung heute die führenden Kreise dieses Staates nicht ohne schwere Sorgen arbeiten. In den „neugewonnenen Gebieten“ von 101.000 Quadratkilometer fanden nämlich die Behörden nach ihren eigenen Angaben 1,483.000 unter deutscher Herrschaft aufgewachsene- sogenannte „autochthone Polen“ vor, die sich in Lebensstil, Denkweise, Erziehung und in der Intensität ihrer volklichen Bindungen stärker aus der Masse der Polen abheben, als es der Regierung lieb ist. Uber sie ergoß sich nun eine Flut von 1,500.000 polnischen Repatrianten aus dem ehemaligen Ostpolen, von fast einer Million Menschen aus Zentralpolen und Ubersee.

Waren schon in den Neusiedlern d i e alten polnischen Scheidelinien zwischen Galizien, Kongreßpolen und Posen sichtbar, so zeichnete sich jetzt die Kluft zwischen diesen und den autochthonen Polen um so härter ab, da diese mit steigendem. Unwillen zusehen mußten, wie jene sich der Verwaltung und der Wirtschaft bemächtigten, während sie, die uransässige Bevölkerung, erst den Nachweis ihrer polnischen Nationalität vor einer Uberprüfungskommission zu erbringen hatten.

In der Voraussicht besonders delikater Schwierigkeiten dieser Art, hat das Ministerium für die „neugewonnenen Gebiete“ einen „Wissenschaftlichen Rat“ mit dem Studium der Frage betraut, welche M i t-t e 1 geeignet seien, um die voneinander differierenden Gruppen zu einer nationalen Gesellschaft zu verschmelzen. Ende Mai 1947 legte der Rat seine Erfahrungen auf einer Krakauer Tagung der Öffentlichkeit vor. Danach verläuft der Prozeß der Verschmelzung in den neugewonnenen Gebieten völlig uneinheitlich. Am günstigsten liegen die Verhältnisse in Niederschlesien und Westpommern, wo die Zahl der Autochthonen gering ist. Hingegen stagniert dieser Prozeß in Ober-sdilesien und im ehemaligen Ostpreußen deshalb, weil Mißverständnisse mit wirtschaftlichem Hintergrund, die großen Unterschiede im kulturellen Niveau, die verschiedenen Stufen der sozialen Gliederung und vor allem das mangelnde Verständnis für die Situation der autochthonen Polen, die den Zu Wanderern mit vollem Mißtrauen gegenüberstehen, tiefe Unzufriedenheit verursachen.

Diese Darlegung des Rates, die mit einem Appell zu einer großangelegten kulturellen Bildungsaktion im Westen schließt, war Gegenstand einer regen öffentlichen Diskussion. Hiebei wurde festgestellt, daß die autochthonen Polen sich von den Neusiedlern in einer Weise absondern, die ihnen sogar den Vorwurf der Germano-philie einträgt. Dies wird dadurch begünstigt, daß sie gezwungen sind, vor der Verifizierungskommission ihre nationale Zuverlässigkeit zu erweisen, was bisher erst knapp einer Million gelungen ist. Trotzdem wurde jetzt wieder eine Beschwerde laut, daß der Magistrat von Danzig auch solche Polen unbekümmert in deutsche Aussiedlungstransporte e i n-teilt und der Verifizierungskommission, die in Danziger Lagern gesammelte Autoch-thone. aussortieren wollte, den Zutritt zu diesen verweigerte. Die von den Neusiedlern beherrschte Verwaltung der neugewonnenen Gebiete begegnet den Autochthonen mit größtem Argwohn, weshalb das Ministerium am 12. Juni 1947 in einem Erlaß es tadelte, „daß die lokalen Behörden in der Praxis einen Unterschied zwischen den Angehörigen der polnischen Bevölkerung in den neugewonnenen Gebieten machen, indem sie besonders die seit Jahrhunderten dort ansässigen Einwohner polnischer Nationalität benachteiligen“. In dem Erlaß heißt es weiter: „Die Gleichsetzung der ortsansässigen Bevölkerung evangelischen Glaubens mit den Deutschen ist bei den Gemeindeämtern schon zur Gewohnheit geworden.“ Diese Gewohnheit und die schlechte Sitte der Denunzierung Autoch-thoner wegen angeblicher Kolkboration mit den Deutschen wird nun von dem Ministerium mit schwerer Strafe bedroht.

In Ostpommern und im ehemaligen Ostpreußen ist zu diesem ein weiteres Problem getreten, weil ich dort die autoch-thonen Einwohner gar nicht als Polen, sondern als Kaschuben und Masuren bezeichnen, weshalb ein die masurische Seenplatte besuchender polnisdier Journalist des „Robotnik“ sehr erstaunt war, als dort die Menschen auf seine Frage, ob sie Polen wären, die Antwort „Nein!“ gaben. Der oben erwähnte Wissenschaftliche Rat nimmt diese Seite der Bcsiedlungsfragen durchaus ernst, gibt aber gleichzeitig seinem Optimismus Ausdruck, daß die Hemmungen, die den Vorgang der sozio-logisdien Vereinheitlichung verlangsamen, „auf die Dauer nicht unüberwindlich“ wären.

In der Tschechoslowakei bilden vor allem die nach Böhmen versetzten Slowaken, die beispielsweise in Asch und in Dux eine Stadtmehrheit haben, und die Ungarn heterogene Bestandteile unter den Ansiedlern. Als eine leidn zur Kritik neigende Minderheit beschweren sich die Slowaken dort über ihre Isolierung von ihrem Volke und über eine ungenügende Vertretung in den Gemeindeverwaltungen. Noch beschwerlicher ist die seit 1945 in der Slowakei laufende Aktion zur Wiedergewinnung magyarisierter Slowaken, die unter dem Namen „R e s 1 o v a k i s i e-r u n g“ bekannt ist und von den Slowaken neben der Industrialisierung als das wichtigste Landesproblem bezeichnet wird, weil es um die Reslovakisierung von fast 600.000 Menschen geht. Derzeit prüft eine „Zentralkommission für Reslovakisierung“ alle Indizien, die der Registrierte für die Bestätigung seines Slowakentums vorweist; die häuslidie Umgangssprache, den Schulbesuch der Kinder, die Mitgliedschaft bei slowakischen Vereinen, den Besitz slowakischer Bücher und andere Kriterien seiner nationalen Neigung. Wer diese Prüfung nicht besteht, muß Haus und Hof verlassen und nach Ungarn auswandern. Deshalb ist der Andrang an Reslovakisanten sehr groß, und wenn die Aktion gelingt, werden Städte, wie Galanta, Rimavska Sobota, Roinava, Neutra, Komorn endgültig ihren ungarisdien Charakter verlieren.

Die mit einer Ablehnung der Reslovakisierung verbund;ncn harten Folgen tragen hier wie auch in anderen national gemischten Gebieten der Ostzone zur Entstehung eines volksmäßig am liebsten neutralen und indifferenten Men-sdientyps bei, der die seit dem Zerfall der Donaumonarchie übliche peinliche Gewissensbefragung nach der Volkszugehörigkeit, deren Beantwortung mit materiellen Konsequenzen verbunden ist, wie einen Alpdruck empfindet und einen Ausweg aus dieser Situation sucht, wie sie etwa das alte Österreich mit seinem übernationalen Begriff des „Österreichers“ bot.

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