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Sdiwejks große Stunde

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Der bisherige Erste Sekretär der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei, Alexander Dubcek, ist von seinem Posten zurückgetreten und durch Husak ersetzt worden. Eine Entwicklung, die schon lange befürchtet worden war, ist endlich eingetreten, und alle Welt hatte das Gefühl, daß der „Prager Frühling“ vom vorigen Jahr endgültig erfroren sei.

Der „Prager Frühling“, der das Ende der Novotny-Ära bedeutete, war zunächst aus wirtschaftlichen Gründen „erblüht“. Die Tschechoslowakei, eines der reichsten Länder Europas, war unter dem Novotny-Regime an den Rand des wirtschaftlichen Bankrotts geraten. Aus der kommunistischen Partei selbst wurde Novotny gestürzt, da weite Kreise der kommunistischen Führung begriffen hatten, daß ein “Weiterführen dieses Kurses eine endgültige Katastrophe über das Land herbeiführen würde. Um diese wirtschaftliche Katastrophe zu vermeiden, wurden neue Wege begangen, da Dubcek und seine Mitarbeiter einsahen, daß ohne Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen die Wirtschaft des Landes nicht angekurbelt werden könne. Die neue Führung gab den Tschechen und Slowaken etwas mehr Freiheit, als sie bis jetzt besaßen, das heißt, sie erfüllten das Minimalprogramm, das alle Tschechen und Slowaken in ihrem Herzen tragen: Ins Ausland reisen zu können, im Inneren des Staates nicht von der Geheimpolizei belästigt zu werden und ein offenes Wort reden zu dürfen; und etwas mehr Waren für das Geld zu bekommen.

Aber mit der Erfüllung dieser wirklich geringen Forderung öffneten sie gleichzeitig die Schleusen für einen Katarakt, der seither als „Prager Frühling“ bekannt ist. Die geringen Freiheiten, die das Regime den Bewohnern der Tschechoslowakei einräumte, gab diesen das Gefühl, am Beginn einer neuen großen Freiheit zu stehen, und versetzte sie geradezu in einen Rauschzustand. Dieser Rauschzustand sah aus wie ein Virus und mußte den Verdacht der Russen erwecken. Wenn dieser auf Ostdeutschland überging und auf Polen und Ungarn, dann brach der ganze cordon sanitaire zusammen, den Rußland an seiner Westgrenze errichtet hatte, und gab außerdem die Chance für eine Wiedervereinigung Deutschlands frei. Rußland erkannte die Gefahr und griff zu: Zunächst ließ es die eigenen Truppen und die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschieren. Als es nicht gelang, eine Protektoratsregierung zu bilden, ließen sie die Tschechoslowakei in einen dualistischen Staat nach Muster der Habsburgermonarchie umbauen. Und damit schuf sie sich die Möglichkeit, jeweils über den einen der beiden Teile den anderen Teil und schließlich die ganze Repu-blick in Schach zu halten. Die Entwicklung war vorauszuberechnen — und die „Furche“ hat sie vorausgesagt —, und der letzte Akt, die Ablösung Dubceks, ist eingetreten. Der freie Westen hatte sich immer übertriebene Hoffnungen über den „Prager Frühling“ gemacht. Er hatte aus der Tatsache eines liberaleren oder richtiger gesagt menschlicheren Kurses des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei auf die Möglichkeit einer Demokratisierung geschlossen. Aber diese war von Anfang an nicht gegeben. Als der ehemalige Minister Goldstücker in Wien ein Fernsehinterview gab, sagte er ausdrücklich, daß die kommunistische Partei niemals daran denken werde, die Leitung der Republik aus den Händen zu geben. Wer aber die Demokratisierung bejaht, muß die Möglichkeit einer Wahlniederlage jederzeit einkalkulieren. Aus den Worten Goldstückers ist nur zu deutlich das Dilemma zu erkennen, vor dem die kommunistische Führung der Tschechoslowakei seit dem „Prager Frühling“ stand: Das Regime zu liberalisieren, damit die Wirtschaft besser funktioniert, und der Bankrott vermieden wird, aber gleichzeitig zu vermeiden, daß der liberale Kommunismus durch eine Demokratie abgelöst wird. Denn auch der liberalste Kommunismus, solange er auf dem Boden von Lenin steht, kann niemals demokratisch sein. Es kann eine echte Demokratie niemals dulden, da dies nur zu leicht die Gefahr einer Niederlage in sich birgt. Alexander Dubcek, ein in Moskau geschulter Kommunist, sah natürlich immer diese Gefahr. Sicherlich wollte er sein Land dem Kommunismus erhalten, aber sicherlich sah er auch, daß es dem sicheren wirtschaftlichen Bankrott entgegenging. Schon aus wirtschaftlichen Gründen war er für Menschlichkeit. Eine Demokratie wollte auch sicher er niemals einführen. Er stand vor der fast unlösbaren Aufgabe, das Kommen der Demokratie zu verhindern und den Kommunismus dennoch zu liberalisieren. Die wirtschaftlichen Verhältnisse wurden auch unter ihm nicht besser. Das Land steht nach wie vor am Rande des Bankrotts. Eine große Anleihe, die Westdeutschland der Tschechoslowakei zu geben bereit war, und die die tschechische Industrie in den Stand gesetzt hätte, sich zu modernisieren, wurde von den Russen verhindert, ebenso wie es einmal Stalin verhindert hatte, daß die Tschechoslowakei der Segnungen des Marschall-Planes teilhaftig wurde. Die Besetzung hat die wirtschaftliche Situation nur verschärft.

Wahrscheinlich ist Alexander Dubcek mit einem Seufzer der Erleichterung von seinem Posten abgetreten, da er die Unlösbarkeit seiner Aufgabe einsah. Da diese Ablösung außerdem ohne äußere Gewaltanwendung erfolgte, versetzte sie die Welt nicht in einen derartigen Schock wie die Tat vom 21. August. Husak wird mit alten „bewährten“ Methoden regieren. Die wirtschaftliche Lage wird dadurch nicht besser werden, schon deshalb, weil es den Russen gleichgültig ist, ob es der Tschechoslowakei gut geht oder nicht. Die wenigen liberalen Freiheiten werden wieder eingedämmt werden. Und wieder kommt die große Stunde des braven Soldaten Schwejk, der durch eine unsichtbare Sabotage versuchen muß, den Lebensraum jedes einzelnen Tschechen und Slowaken zu vergrößern. Und wieder kommt die große Stunde der freien Welt, die durch viele Gaben an Verwandte und Freunde in diesem armen Land dazu beitragen kann, das Leben erträglich zu gestalten und alles zu überstehen. An Stelle des guten Dubcek tritt der Tuzex-Bon.

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