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Fünf Lern jähre

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Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes Ende August 1968 scheiterte in der Tschechoslowakei das „Experiment der 470 Tage“, jenes Experiment, das mit den Namen eines Dubcek und Cisar, eines poldstüeker und Hajek, eines Kriegl, Liehm und Löbl, eines Prchlik, Sik, Smrkovsky und gewiß auch Svoboda verbunden ist. Man gab diesem Experiment den Titel eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“, eines „Re-formsozialismus'' und manche der 1968-Emigranten rühmen sich noch heute, echte Kommunisten, bessere Kommunisten zu sein.

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Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes Ende August 1968 scheiterte in der Tschechoslowakei das „Experiment der 470 Tage“, jenes Experiment, das mit den Namen eines Dubcek und Cisar, eines poldstüeker und Hajek, eines Kriegl, Liehm und Löbl, eines Prchlik, Sik, Smrkovsky und gewiß auch Svoboda verbunden ist. Man gab diesem Experiment den Titel eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“, eines „Re-formsozialismus'' und manche der 1968-Emigranten rühmen sich noch heute, echte Kommunisten, bessere Kommunisten zu sein.

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Die nachfolgenden fünf Jahre mit ihrer „Friedhofstille“ — ein Wort, das der heutige KP-Chef Husak allerdings für die Novotny-Zeit geprägt hatte —, mit ihrer trostlosen „Normalisierung“, ihrer weitgehenden Grenzsperre und Abkapselung, ihrer völligen Abhängigkeit, läßt bei mancherlei Kritik an Dubcek, seinem Team und seinen Experimenten, diese 470 Tage vom. Jänner bis zum August 1968 als kein „Temno“, keine dunkle Zeit erscheinen. Gewiß: Fehler, Unklugheiten und Ungereimtheiten gab es in Hülle und Fülle, aber ein Volk verhielt sich wie ein Mann, der halbverhungert aus einem KZ befreit wurde, sich einmal wild sattißt und damit erst recht sein rasches Ende besiegelt.

Vor allem war das Dubcek-Team ein bunt und fast zufällig zusammengewürfelter Haufen, der den Männern an der Spitze eigentlich pausenlos größte Schwierigkeiten bereitete. So etwa ein General Prchlik, der zwar völlig zu Recht die rein sowjetische Führungsspitze der Mächte des Warschauer Paktes kritisierte, dies aber so undiplomatisch wie möglich und zum gefährlichsten Augenblick tat; oder die Werke der verschiedensten slowakischen und tschechischen

Dichter und Schriftsteller, die ihre bisher in Schubladen verborgenen Werke über Nacht in allen nur möglichen Ubersetzungen erscheinen ließen und damit vermutlich die schärfste Waffe, und die wirkungsvollste Kritik der bisherigen Zustände, bedeuteten. Denken wir an die Journalisten, die in wenigen Wochen eine kaum übersehbare Fülle von Beispielen brutal verletzter Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit publizierten. Denken wir an eine, gewiß vorsichtig artikulierte neue außenpolitische Konzeption — wenn auch im Rahmen des Ostblocks. Denken wir an den Ruf nach einer Neutralität des Landes.

Und da war auch die Deklaration der „Tausend Worte“, die nicht nur gefährliche Angriffsflächen bot, sondern einmal mehr aufzeigte, daß die Tschechen — unabhängig von anderen Eigenschaften, Tugenden und Untugenden — zwar sehr gute Propagandisten, aber keine Ideologen sind. Ein Vergleich etwa mit Jugoslawien zeigt dies in aller Deutlichkeit auf.

Und hier ist die wirklich gewichtige Frage zu stellen: Konnte das Prager Experiment glücken? Ist das Experiment Titos heute, genau 25 Jahre, nachdem es begonnen wurde, als geglückt zu bezeichnen? Gibt es ein „bißchen Schwangerschaft“, einen autoritär-demokratischen Mischmasch? Gibt es Kommunismus mit Pressefreiheit, gibt es offene Grenzen — verbunden mit autoritärem Zwang — gibt es Parteidemokratie mit der naturgegebenen, selbstverständlichen und immerwährenden Führungsrolle einer Partei? Gibt es ein Nebeneinander von Dubcek, Ulbricht und Breschnjew? Stecken nicht auch Ceausescus Extravaganzen in einem sehr engen Korsett?

Prager Emigranten von 1968, etwa ein Sik, Löbl, Mhacko und Pelikan behaupten und beschwören, daß dies alles möglich sei. Ist es aber tatsächlich real? Zeigt nicht etwa die Sowjetunion, daß sie eine gewisse Lockerung und Liberalisierung der Außenpolitik durch verschärfte Maßnahmen im Inneren kompensiert, daß hier mehr denn je jede aufkeimende Kritik und Opposition auch sehr prominenter Leute unterdrückt wird?

Sind al3o die Tschechen wieder einmal — einen Irrweg gegangen? Vielleicht muß man die vage aber bittere Antwort eines „Villeicht“ geben. Und man muß die teilweise nicht sehr tröstliche Stellungnahme des bekannten Regensburger Völkerrechtlers Kimminich hinzufügen, daß das Völkerrecht wenig Möglichkeiten friedlicher Befreiung von Völkern kennt, daß gerade deshalb ein Postulat nicht stark genug unterstrichen werden könne: daß ein Volk und ein Staat alles daransetzen müsse, seine Selbständigkeit nicht zu verlieren. Das ist es, was die Welt vom „Prager Frühling“ und den fünf bitteren Jahren danach lernen kann...

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