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Die Leute waren solidarisch

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Den August 1968 habe ich im Sanatorium für lungenkranke Kinder in LucJvnä, einem kleinen Kurort unter der Hohen Tatra, unweit von Poprad, verbracht. Ich hatte eine Vertretung des Chefarztes übernommen, der gerade Urlaub machte.

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Den August 1968 habe ich im Sanatorium für lungenkranke Kinder in LucJvnä, einem kleinen Kurort unter der Hohen Tatra, unweit von Poprad, verbracht. Ich hatte eine Vertretung des Chefarztes übernommen, der gerade Urlaub machte.

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Die politische Situation in der Tschechoslowakei war schon seit Jänner 1968 im Wandel. Jeder Tag brachte etwas Neues - diesmal auch Erfreuliches. Der Druck der Partei, des Regimes wurde lockerer, man bekam wieder Hoffnung. Die Politiker, die einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz versprachen, waren zwar auch Kommunisten, aber sie benutzten eine verständlichere Sprache. Man wollte ihnen glauben, man vertraute ihnen; sie zeigten einen Ausweg, den zu beschreiten man langsam die Hoffnung verloren hatte.

Die Begeisterung war groß. Die Protagonisten, besonders Alexander Dubcek, ein Slowake, der es zum ersten Mal bis zum Generalsekretär der Partei in Prag gebracht hatte, waren umjubelt, ihre Artikel wurden gelesen, ihre Versammlungen besucht. Aber es waren unverkennbar auch Mißtöne zu hören-vor allem aus Moskau. Die Drohungen wurden aber eher unterschätzt und nicht ganz ernst genommen. Niemand glaubte an eine Invasion, die Geschichte kann sich doch nicht wiederholen. Die Sowjetunion kann sich doch einen Einmarsch wie im Jahre 1956 in Ungarn, in einer nunmehr doch etwas veränderten europäischen Situation, nicht leisten. Der Verlust an Glaubwürdigkeit wäre bestimmt zu groß.

Jeden Abend hörte man wieder gerne den einheimischen Rundfunk bis spät in die Nacht hinein. Jedes Zeichen der Liberalisierung wurde mit Genugtuung wahrgenommen und man wollte alles Schlimme der vergangenen zwei Jahrzehnte (seit der Machtübernahme durch die Kommunisten im Februar 1948, Anm.d.Red.) vergessen. Es wurden wieder Pläne geschmiedet, Visionen und niedergeschlagene Ambitionen wachgerufen. Die Zukunft schien wieder rosafarben zu werden.

Doch alles wurde anders. Am 21. August morgens hörte man von den unweit von Ludivnä gelegenen Fabrikanlagen in Svit die Sirenen heulen. Das war ein schlimmes Zeichen. Der Rundfunk bestätigte die unterdrückte Ahnung. Sie kamen, die Russen. Von allen Seiten, ja sogar mit ihren „Verbündeten”.

Es war ein Schock. Eine tiefe Ernüchterung, vor allem bei den Kommunisten. Ein hilfloser Zorn und unaussprechliche Angst. Die Euphorie mündete in eine Depression, aus der man keinen Aus weg sah. Der kurze Traum von Freiheit endete mit einem grausamen Erwachen.

Aus dem Radio kamen jede Stunde neue Nachrichten über Bewegungen der einrückenden Truppen. Die Leute wurden aufgefordert, keinen Widerstand zu leisten. Die Slowaken waren zum Glück und überraschenderweise diszipliniert. Nur in Preßburg gab es Blutvergießen.

Der Einmarsch machte die Leute solidarisch. Alle Differenzen und Streitigkeiten waren vergessen, man war auf einmal einer Meinung. Es gab nur einen Feind: den von außen.

Danach folgte die Normalisierung, die die Uhren der Freiheit stehen ließ. Man mußte noch zwanzig Jahre warten. Wie wäre es, wenn...? Viel Gutes wäre erhalten geblieben, bestimmt. Denn es lebten damals noch Leute, die die Freiheit erlebt hatten und kannten.

Der Autor, Lungenfacharzt in Pension, war als Student in der katholischen Kolakovic”-Bewe-gung an vorderster Stelle tätig, ist heute führender slowakischer katholischer Publizist und Präsident des Medienförderungsvereins für Osteuropa CLIRCA.

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